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Gedichte über den Tod - Seite 113


"Lasst mich doch endlich gehen!"

„Lasst mich doch endlich gehen!“

Man hatte aus der Klinik ihn geholt,
Wollte an Weihnachten ihn bei sich haben,
Bei der Familie, bei hellem Weihnachtsbaum
Und mit ihm sein, wie all die vielen Jahre.

Er lag, geschlossen seine grauen Augen,
Auf diesem alten Sofa, schwer in Atem.
Die Flasche führte Sauerstoff zu ihm,
Zur Nase – und er lag unbeweglich da.

Nach Weihnachten kam er zurück,
Ins Krankenhaus, wo man ihn überwachte;
Und dennoch saßen sie tagtäglich
An seinem Bett, ließen ihn nicht gehen.

Einmal, im Januar, da hatte er dann
Jenes Moment, um frei zu sprechen:
„Lasst mich doch endlich gehen!
Warum holt Ihr mich denn zurück?“

Betroffen sahen sie sich in die Augen,
Als in die Stille dieser flehentliche Hall
Und er dann wieder rasch in seine Welt
Der Atemschwere notlebend abkippte.

Gehörte er doch zu der Generation,
Die im Krieg war und damals erlebte,
Wie dabei Klassenkameraden fielen,
Gar nicht mehr sprachen, nicht aufstanden.

Darüber konnte, wollte er nicht sprechen,
Weinen konnt' er nur in sich leis' hinein.
Er wusste ja: Keiner konnt' wirklich ermessen,
Was jener Teufelshund den jungen Seelen brockte ein.

Keiner verstand, warum er gehen wollte,
Wenn sie an seinem Bette saßen,
Er keinen Augenblick allein dort atmen konnte,
Damit der Tod zum Vaterlosen ja nicht kam.

Im Frühjahr fuhren sie zur Augendiagnose,
Ihn, dort zu sehen auf den Augenhintergrund.
Da sah der Heilpraktiker nur ein dunkles Feld,
Aus dem das Leben nicht mehr sprach.

So fuhren sie ihn wieder heim,
Von da aus wieder in die Klinik,
Wo Tag und Nacht Verwandte
Ihm nah am Bette saßen.

Erst Pfingsten dann in lichtem Augenblick
Sagte er mit geschlossenen Augen:
„Ich habe schon gemerkt, dass er da war.“
Der Sohn war da, und er fiel in die Dämmerwelt.

Nun schien er endlich leichter zu atmen,
Trank auch ein wenig Spargelwasser,
So dass die Ehefrau um Mitternacht heimging,
Während die Kinder längst auf Reisen waren.

Am Morgen wurde sie vom schrillen Telefon
Aus ihrem Tiefschlaf jäh herausgerissen.
Ihr lauter Schrei, ihr Weinen zeigte an:
Er war nicht mehr, er hatte ausgelitten.

Noch jahrelang trieben sie Vorwürfe,
Warum sie ihn allein gelassen hatte.
Doch ist es nicht so, dass nur gehen kann,
Wen man schließlich auch gehen lässt?


©Hans Hartmut Karg
2020

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