Gedichte über das Sehen - Seite 16

Wenn Vermutungsspezialisten sich als Wissenschaftler titulieren
können Verschwörungstheoretiker sich auch als Hellseher bezeichnen

Verbeuge Dich
vor den Hoheiten
der Deutung

Ansonsten bereiten sie Dir
ein Mahl der Gewalt


Mit inbrünstiger Überzeugung vorgetragene Vermutungen
führen beim staunenden Publikum zu anerkennendem Beifall
Unterwürfig glaubt es, was es nicht versteht
und ist froh darüber
denn es muss sich nicht mit Themen intensiv auseinander setzen
und scheint auch keine Verantwortung dafür zu übernehmen

Doch abgelehnte Verantwortung
fliegt wie ein Bumerang
und trifft schwer
den eigenen Hinterkopf


Mit gespaltenen Zungen
wird um Deutungshoheiten gerungen
um Zweifellosigkeit zu erlangen
und Denkunwillige zu fangen

Ohrwurmtaugliche Melodien erklingen
um gemeinsam zu singen
und alle zu lenken, die mitsummen
Andere müssen verstummen
Geködert
Gefördert
Geduldet
Verschuldet

Weisheitsleer
werden Willige gehegt
Schuld wird schwer
auf ihre Schultern gelegt

Sie tragen sie würdelos
Ihre Hürde, ihr Los
und schütteln nicht
und rütteln nicht
und werden es so nicht mehr los

© jogdragoon

Die alten Menschen
Sitzen am langen Tisch
Gertrud kann nicht mehr sprechen
Walter auch nicht
Gertrud kann noch gut sehen
Walter auch

Die alten Menschen
Sitzen den ganzen Tag
Am rechteckigen Tisch
Manchmal werden sie
Nach draussen gebracht
Und wieder zurück

Gertrud sitzt lieber am Tisch
Als an der frischen Luft
So auch Walter
Da sieht er Gertrud
Manchmal lächelt er
Manchmal lächelt sie

Die alten Menschen
Gehen früh zu Bett
Jeder in sein Zimmer
Jeder für sich allein
Nur Gertrud und Walter
Bleiben noch lange wach

Irgendwann im November
Fehlt ein Gedeck auf dem Tisch
Gertrud sitzt da und denkt
Wo bleibt denn nur Walter
Doch Walter kommt nicht mehr
Gertrud schläft nicht gut

Drei Tage später
Liegt ein neues Gedeck
Auf dem langen Tisch
Regungslose Gesichter
Pirmin heisst der Neue
Starrt unentwegt Gertrud an


© René Oberholzer