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Gedichte über Schmerz - Seite 342


Mein Kartenhaus

Das Leben ist ein Kartenhaus.
Alles wird vorsichtig aufgebaut.
Karte für Karte. Stück für Stück.
Von Jahr zu Jahr wird es höher,
aber auch komplizierter und schwieriger es weiter zu bauen.

Kommt etwa ein Luftzug,
so kann das Kartenhaus zerstört werden
oder es hält es aus.
Egal ob es der kalte Nordost-
oder der föhnige Südwestwind ist.

Man weiß es nicht, man weiß nicht was passieren wird,
man sieht es nicht kommen.
Das Kartenhaus versucht seine Stärke unter Beweis zu stellen,
es versucht standhaft zu bleiben.

Es ist auf starken Säulen gebaut, ohne die es nicht stehen könnte,
nicht leben, nicht atmen könnte.
Ohne sie wäre das Kartenhaus nicht so hoch,
ohne sie wäre es nicht so standhaft.

Diese Säulen symbolisieren die wichtigsten Menschen im Leben eines Jeden.
Eltern, Schwestern und Brüder, die engsten und besten Freunde.
Menschen, ohne die man sich sein Leben nicht vorstellen kann,
ohne die man nicht sein will.

Mein Kartenhaus wurde beinahe von einem Schneesturm umgestoßen.
Einfach so. Auf einmal war er da und ist nicht weitergezogen.
Die Karten waren überall verstreut,
kaum noch zu finden und schon fast völlig verloren.

Es hat einige Zeit gedauert,
bis es wieder halbwegs aufgebaut werden konnte.
Mittlerweile konnte es sogar schon ein wenig stabilisiert werden.
Doch nur mit Hilfe dieser Säulen konnte das geschehen.
Und irgendwann wird es ihretwegen wieder so hoch sein, wie es einst war.

Mein Kartenhaus konnte nur durch sie wieder erbaut werden.
Mein Leben wurde wegen dieser Säulen wieder erträglich, wieder lebenswert.
Ich lebe nicht für sie, aber ich lebe wegen ihnen.
Ich lebe noch, weil sie immer da sind,
weil sie die Säulen meines Kartenhauses sind.
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Welche Kindheit

Sie werden wohl längst in Vergessenheit geraten sein, diejenigen, die in Angst getauft, die von Geburt an Betrogenen, augenscheinlich auch Erdenkinder wie wir. Lebenslänglich aber blieben ihre zarten Hände heimatlos und unberührt. Beinahe überlebten sie das kaltherzige Echo geschwärzter Jahre. Sie erkennen sehr wohl die Dunkelziffer der kleingeredeten Alltagstode, den beißenden Rauch aus Spott und Häme des schmerzfordernden Teufelskreises, vor denen sich unsere Frohsinnsaugen nur allzugern verschließen möchten.

Im Vernichtungslager, hinter vergitterten Silhouetten gestaucht - statt Ballspiele und Lebenlust - empfanden sie blanke Wut auf das Leben, ihr Schicksal das einherging mit dem rachelüstigen Herzschlag der bezeugenden Blutengel. Sie warfen stattdessen die gebläuten Nägel des Dornenkönigs millionenfach an die gotteslästernde Lagerwand. Sie hatten die klägliche Einbahnstrasse unter strenger Bewachung in falscher Richtung verlassen müssen - kein Exodus sondern Holocaust - am Herz vorbei zur Sickergrube. Sie waren Kinder wie du und ich!

Der Judasstern stürzte damals sang- und klanglos von ihrem geliebten Himmel ins vergiftete Schattenmeer, überall begegnete man ihnen mit Härte und Kälte. Im Ghetto schleppten sich sinnlos ihre klagende Schritte. Zu Tode geängstigt - verdammte Jünglinge und Jungfrauen - von Stacheldraht und Stahlhelm gefangen. Sie wussten längst um die unerbittlich klaffende Klippe, den hässlichen Abgrund. Sie kannten diesen teuflischen Plan, der sie ins Gas führen sollte. Deportierte Blutwege - Zug um Zug - die aus ihren zarten Kinderadern verzweifelt um Hilfe schrien. Niemand konnte oder wollte sie retten. Samen und Keim, Stammbäume im Mörderstaub einfach zu Tode erstickt, der Kindeskinder beraubt, vernichtet für alle Zeiten. Was blieb sind heute Wolkenberge, Trümmermeere, Tränengassen und Atrappen aus Sternschnuppen.

Das entblätterte Traumbild verwandelt, vom Spiegel- zum Schreckensbild - die Tragik ihrer Ahnen wiederholte sich, doch dieses Mal millionfach brutaler! Hasserfüllt warf man sie blindlings in die Sehnsuchtslabyrinthe, entledigte sich ihrer in Massengräbern - jene Gräber ohne Namen. Ermordet, zertreten und ihre Asche noch nicht mal in die Winde verstreut. Weit entfernt liegen sie noch heute von jedweder Heimat, zwischen Schutzpatron, Sandkasten und Schneckenhäuser - in den schweigenden Steinbrüchen da selbst die Ewigkeit einen Platz gar ungern finden möchte - im Tal der gesammelten Leere. Auf ihren Gedenktafeln steht: "Zerrissene Seelen, arm wie Flughunde, ihres Flügelschlags beraubt!"

Nichts - aber auch rein gar nichts kann je diese Lücken füllen, weder die unentwegte Liebe der Göttinnen der Milde, noch die vielbesungene Heilkraft der Natur, noch der Trost eines Wortes, der aufrichtig gemeinten Vergebungsangebote.

Aber wehe dem, der die Blumen der heiligen Kindheit vom Grabe stiehlt!

© Marcel Strömer
(Magdeburg, den 28.04.2018)


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