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Gedichte über Schmerz - Seite 202


Gevatter

Du haust mich um wie ein Wirbelsturm
Du hauchst mir neues Leben ein wie ein Zündfunke
Meine Tränen rinnen herab wie Sturzbäche
Traurigkeit und Verzweiflung bahnen sich ihren Weg
über mein Gesicht
Ich trauere um eine Freundin
und weiß kaum, wohin mit meinen Gefühlen
Der Schmerz zerreißt mich förmlich
Früher nannte man Dich Gevatter,
behandelte Dich wie einen Bruder,
heute bist Du ein Fremder,
niemand kennt Dich mehr,
niemand heißt Dich mehr willkommen,
alle machen einen weiten Bogen um Dich
und hoffen, Dir zu entkommen
Doch Du bist da, bist einfach immer da
Ohne Dich gibt es kein neues Leben,
keinen neuen Anfang
Es gibt Kulturen, da begrüßen Dich die Menschen,
heißen Dich willkommen
Da darfst Du sein
Heute bin ich Dir begegnet,
und es tat weh, verdammt weh,
hast eine gute Freundin mitgenommen,
nach all den Jahren,
die sie um ihr Leben gekämpft hat
Hast sie nicht losgelassen –
und einfach mitgenommen,
ohne zu fragen.
Und ich saß da und habe geweint
Der Schmerz, der Verlust,
all die Erinnerungen waren greifbar,
waren spürbar für mich –
und unwiederbringlich zugleich
Dein Kommen ist so mächtig,
so absolut, so unumkehrbar
Ich spüre meinen Respekt vor Dir
Und wenn Du dann da warst,
einen geliebten Menschen mitgenommen hast,
dann ist sie da, meine Trauer,
dann sind sie da, meine Tränen
Du bringst mich mit mir in Kontakt
Das ist das Gute an Dir
Lässt mich meinen Schmerz fühlen,
meine Endlichkeit,
und doch bist Du nur eine Schwelle,
eine Schwelle der Bahntrasse
auf dem Weg ins Nirgendwo,
eine Schwelle auf dem ewigen Pfad des Seins
Nach Dir beginnt ein anderes Dasein,
eine neue Spiritualität,
eine neue Geistlichkeit,
ein anderes Bewusstsein,
etwas, worauf wir uns genauso freuen können und dürfen,
wie auf neues Leben
Leben und Sterben,
Geben und Nehmen gehören dazu,
sind eins, eins mit uns
Und wir sind eins mit Dir –
Zeit unseres Lebens…


ls260708
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dein weg

Hallo Renate,
hier ist noch mal Lothar, dein Mitbewohner
ich habe Angst, unsägliche Angst um dich,
und um mich,
ich wünschte, du könntest dich entscheiden,
dich entscheiden zwischen Leben und Tod,
willst du weiterleben oder
willst du sterben?
Die Ärzte sagen, dein Zustand sei im Moment stabil,
stabil, was heißt das?
ist das zum Leben zu wenig
und zum Sterben zuviel?
Theoretisch kannst du Monate so weiter leben
doch es ist keine Veränderung in Sicht:
Keine Verbesserung und auch keine Verschlechterung,
Möchtest du leben oder
möchtest du sterben, Renate?
Ich wünschte, du wüsstest es!
Wir wissen es nicht, ich weiß es nicht,
und ich muss zum Glück auch nicht darüber entscheiden
ich weiß nicht, was ich dir wünschen soll:
Das Leben, vielleicht ohne Hoffnung,
ohne eigene Atmung, ohne Kommunikation,
ohne Lachen und Lebendigkeit?
Oder den Tod, der alle Hoffnung sterben lässt?
Der jedes Leben im Keim erstickt?
ich fühle eine große Traurigkeit in mir,
eine Wehmut und Schwere,
die mich kaum atmen lässt,
die es schwer macht, mich zu spüren,
mich und meine Gefühle
ich fühle mich so ohnmächtig, hilflos und klein,
so wie der kleine Lothar mit drei, vier, fünf Jahren,
als sein Vater groß und mächtig über ihn kam,
das alles ist lange her und vorbei,
doch die Ohnmacht ist wieder da,
und mit ihr die Verzweiflung,
begriffe wie Verantwortung, tragik und tragödie
wandern durch mein Hirn
und finden weder ihren Inhalt noch einen festen Platz
ich weiß nur, dass ich meinen Weg in dieser Situation
finden muss, so wie du Deinen,
und wieder bete ich, dass du deinen Weg so gehen kannst,
wie er für dich der Richtige ist,
und dass auch ich meinen Weg finden werde…


ls151009
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wechselbad der gefühle

Gefühle tauchen auf
Gefühle tauchen ab
ich tauche ein
in Gefühlsbäder, Wechselbäder
die Tage, in denen du im Koma liegst,
gehen vorüber, langsam, aber stetig,
der Herbst hat Einzug gehalten
wird dein Auszug bald kommen?
ich weiß es nicht
Nachrichten voller Hoffnung erreichen mich,
bevor die Hoffnung bald wieder versickert,
unzureichende Informationen lassen mich
mehr hoffen als bangen,
dein Leben in gottes Hand,
balanciert auf den Waagschalen des Lebens,
Tage zwischen Leben und Tod
und ich weiß mal wieder nicht,
was ich dir wünschen soll:
ein Leben ohne Atmung, ohne Zukunft,
ohne Pinsel, Selbstbestimmung,
Mitteilung, Glück und Freude,
eben nur noch ein Überleben
an Maschinen und Apparaten,
oder einen gnadevollen Tod
mit der Gewissheit und Zuversicht,
dass du in den letzten sechs Monaten
dein Leben leben konntest,
wie nie zuvor,
mit all den Eindrücken,
Farben, Gerüchen, Wegen,
Menschen, Melodien und Früchten,
die du immer mochtest,
die du so geliebt hast,
und mit der Freude darüber,
dass du Werner wieder sehen kannst,
für immer bei ihm bleiben kannst,
Werner, den du all die Jahre zuvor
so vermisst hast,
jetzt seid ihr wieder zusammen
schweift als Zwillingssterne
Nacht für Nacht durch den Himmel
und wacht über uns,
passt auf, dass uns kein Unglück ereilt,
dieser Gedanke hat etwas sehr tröstliches,
macht dein Fortgehen wieder gut,
versöhnt mich mit meinen Gefühlen
von Schmerz und Traurigkeit,
Wut und Verzweiflung,
mit Gefühlen von Einsamkeit,
von Allein sein und Verlassen werden,
von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit,
von Wehmut und Sehnsucht
nach Geborgenheit und Liebe,
nach angenommen sein und Anerkennung

In den Tagen zwischen Leben und Tod
und auch jetzt nach deinem Fortgehen
erlebe ich ein wechselbad der Gefühle,
eine Zeit zwischen Alltag und Ausnahmezustand,
nichts ist mehr, wie es vorher war,
und es wird auch nie mehr so sein
vielleicht ist auch das etwas Gutes,
es kann nie mehr so sein wie vorher,
dafür warst du einfach zu bedeutend für mich,
mit deinem Fortgehen ist Veränderung gekommen
und bettelt hartnäckig um Einlass
in mein Leben,
ein Leben, dass ich erst wieder sortieren muss,
in das ich mich einfinden muss, in dem ich mich
erst wieder zurecht finden muss,
alles durcheinander,
ineinander, übereinander, auseinander,
wie nach einem Tornado,
der keinen Stein auf dem anderen stehen lässt,
die Moleküle und Gefühle werden neu gemischt,
sieh zu, wie du damit zurecht kommst

Noch sehe ich keinen Sinn darin,
aber ich versuche, mein neues Leben anzunehmen,
mit allem, was im Moment dazu gehört:
mit Tränen und Traurigkeit,
mit ganz viel Trost, aber auch Trostlosigkeit,
mit Verzweiflung und Verwunderung,
mit Verbitterung und Verwundung,
aber auch mit Trauen und Vertrauen,
mit Liebe, Hoffnung und Glück,
mit Demut und Dankbarkeit,
mit Freude und Faszination,
mit Glaube und der Gewissheit,
dass ich dich nie verlieren werde,
dass du immer bei mir sein wirst,
gehe ich in mein weiteres Leben
und nehme dieses wechselbad der Gefühle
als das, was es ist:
eine neue Lebenserfahrung…


ls221009
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Was ist der Tod?

Du bist gegangen, nicht gerade sanft,
aber kurz entschlossen und bestimmt,
hast Dich für Werner entschieden,
Deinen allerliebsten,
das kann ich verstehen,
auch wenn es mir manchmal schwer fällt,
damit umzugehen,
heute ist Allerheiligen,
das Gedenken der Toten,
Du bist noch nicht einmal beerdigt,
und doch denke ich an Dich – jeden Tag
Dein Körper ruht noch auf dieser Welt,
friedlich und grau,
als ein Haufen Asche,
den wir übermorgen verabschieden,
der heiligen Erde übergeben,
es wird meine erste Beerdigung
in meinem Leben sein,
ich weiß nicht, wie das sein wird,
weiß nur, ich habe keine Angst,
vielleicht freue ich mich,
so viele liebe Menschen wieder zu treffen,
Menschen, denen Du wichtig warst,
denen Du etwas bedeutet hast,
vielleicht werde ich tief traurig sein
und heulen wie ein Schlosshund,
ich weiß es nicht,
werde neugierig auf mich selber sein
und erleben, wie es sein wird,
Deinen Körper zu verabschieden,
Deine Hülle zu Grabe zu tragen,
Dich zu beerdigen,
Erde zu Erde,
Asche zu Asche,
Staub zu Staub,
Du gehst zurück –
in die Natur,
dieser Gedanke hat etwas Tröstliches für mich,
zumal Du die Natur so geliebt hast,
die Natur und das Leben –
manchmal auch.
Zurzeit ertappe ich mich immer wieder dabei,
wie ich mich frage:
Was ist das Leben?
Was ist der Tod?
Was ist der Unterschied?
Ist nicht alles dasselbe?
Der Tod… der Tod…
Der Tod ist nichts ohne das Leben,
er hängt quasi am Leben,
ohne das Leben gäbe es keinen Tod
und umgekehrt!
Keiner hat eine Bedeutung ohne den anderen,
sie gehören zusammen,
ja, bedingen einander:
ein riesiger, endloser Kreislauf der Materie,
und irgendwie ist es gut zu wissen,
dass wir ein Teil davon sind,
ein Teil aller Materie in der Unendlichkeit.
Und so unendlich alle Materie scheint,
so unendlich der Kosmos und auch die Zeit sich geben,
so endlich ist das Leben auf diesem Planeten.
Die Körperlichkeit endet mit dem Tod,
doch die Seele lebt weiter,
zumindest in meiner Vorstellung,
und diese Vorstellung ist etwas sehr Schönes,
hat etwas Wertvolles,
Beruhigendes, Tröstendes,
die Seele lebt fort,
wandert nach einiger Zeit des Ausruhens
in einen anderen Körper,
um einem anderen Menschen Leben einzuhauchen,
ihn zu beseelen.
Angesichts dieser Vorstellung
verliert der Tod für mich an Bedeutung, an Gewicht:
Die Zellen und Moleküle Deines Körpers
werden zu neuer Lebensenergie
und erwachen vielleicht eines Tages
in einer Rose, einer Margerite
oder einem Gänseblümchen,
oder aber in einem Marienkäfer,
und wir können uns von neuem
an Dir und Deiner lebendigen Seele erfreuen…


ls011109
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