Gedichte über Realität - Seite 48

Ich betätige die Klingel
sogleich geht die Tür auf
die Alte sah mich kommen
von ihrem Küchenfester aus
- Eine Schrippe würde genügen –
sagt die Nachbarin lächelnd
und nimmt die Brötchen entgegen
Sie traut sich nicht selbst einzukaufen
gehört zur Risikogruppe

Oder Blumen schicken lassen
an eine vereinsamte Tante im Heim
die niemand besuchen kann
wegen der Kontaktsperre

Nette Gesten
gute Taten

Büßen diese an Wert ein
wenn sie zweckgebunden sind?

Wir haben Ausnahmezustand
Menschen sterben
da denkt man oft zuerst an sich

Wenn ich gut zu anderen bin
ist das Schicksal gut zu mir?

Das Virus erwischt mich nicht
und wenn geht’s glimpflich aus
falls nicht komme ich in den Himmel

Oder gilt das nur
wenn schon denn schon
bei absoluter Selbstlosigkeit?
Obliegt es einem Zufallsprinzip?

Inmitten der Ungewissheit
bleibt vorerst nur die Hoffnung
bei all den netten Gesten

Walking a road of cobblestone,
carefully mind your step.
Matching ends from skin to bone:
caught in a spider's web.
Have you got the slightest notion
of what makes people tick?
Don't trust in anyone's emotion;
the wall grows higher brick by brick.

Where ambition is there is no space
for reason, love or joy.
Like cobblestone, like brick your face
will harden, man or boy.
Could an earthquake smash to pieces
all that culture brought about -
might the earth devour our species?
No more mankind? Crying out loud!

Oh April's Fools, you brainy apes!
What have you been doing so far?
Too high, you thought, God grew the grapes?
Our sun's just the nearest star.
Have you ever thought of thinking?
Have you finally filled your purse?
Maybe there are worthy beings
somewhere in the universe...


Heinrich Baumgarten, May 1984