Liebe Gisella (wie kommt es eigentlich zu dem zweiten "l" in deinem Vornamen?),
Deine Nachricht neulich hat mich sehr berührt, glücklich und traurig zugleich gemacht, wie das oft so ist im Leben: das eine ist nicht ohne das andere zu haben (und vielleicht ist das auch gut so, wer weiß?)
Glücklich war ich, weil du mir so liebe Sachen gesagt hast und ich lesen durfte, dass dich mein Text so berührt hat. Auch ich habe das Gefühl, in dir eine Seelenverwandte zu treffen. Das habe ich nicht so oft, und es tut mir immer wieder gut, mich mit solchen Menschen zu verbinden.
Traurig war ich, weil auch so viel Bedrückendes, Trauriges und vielleicht auch ein bisschen Verzweiflung in den Zeilen lag, die du mir geschrieben hast. Es muss sehr schwer sein, eine Krebserkrankung zu überleben, um dann anschließend immer mit der Angst vor neuen Metastasen leben zu müssen. Du hast nie Gewissheit, ob der Krebs wirklich ganz raus ist aus deinem Körper. Ich muss zugeben: Ich kann nicht wirklich völlig nachempfinden, was das bedeutet. Ich stelle es mir beängstigend und zermürbend zugleich vor, etwas, dass dich nie wirklich ruhig schlafen lässt.
Auf meiner Homepage hast du sicher davon gelesen, dass ich etwas anderes überleben musste: Meinen Vater. Vielleicht auch schlimm, aber ganz anders schlimm, denn: Ich kann mich seit seinem Tod wirklich auf meine Heilung konzentrieren, es gibt keine aktuelle Bedrohung mehr, die mit damals vergleichbar wäre (abgesehen von heutigen materiellen Existenzängsten).
Aber du fühlst dich immer noch bedroht und bist es auch. Ich kann gut verstehen, dass du keine Vorsorgeuntersuchungen mehr machst. Ich wüsste auch nicht, wie ich mit solch einer Nachricht umgehen sollte.
Was deine Stärken angeht: Ich glaube schon, dass du eine sehr tapfere und sehr starke Frau bist (und eine sehr attraktive dazu), aber du bist eben nicht immer und nicht nur stark, genauso hast du Einbrüche von stärke und schwache Seiten. Ich empfinde es (auch für mich selbst, aber auch bei anderen Menschen) immer als eine enorme Stärke, wenn Menschen schwache Seiten an sich zulassen und zeigen können. Ich empfinde das für mich immer als total befreiend und auch prinzipiell einfach als sehr natürlich, wenn Menschen ihre schwachen Seiten eben auch zeigen können.
Niemand ist nur stark! Nur: Die meisten Leute wollen keine schwachen Seiten sehen, weil sie Angst haben, mit ihren eigenen schwachen Seiten konfrontiert zu werden, deshalb sagen sie dann auch lieber: Die Gisella ist stark, die schafft das alles! In dem Moment, wo sie das sagen, brauchen sie sich weder ihre eigenen, noch deine Schwächen anzusehen, und die allgegenwärtig spürbare Verletzlichkeit des lebens kann besser ausgeblendet und verdrängt werden. Das ist ja im grunde auch das Prinzip der Diskriminierung behinderter Menschen: Wenn ich selber noch mal drauf schlage, brauche ich mir die "schwachen" Seiten des anderen nicht anzusehen, und muss mich damit auch nicht mit meiner eigenen Verletzbarkeit auseinandersetzen.
Auch wenn du äußerlich nicht behindert wirkst, spürst du dieses Prinzip natürlich auch bei deiner Krebserkrankung. Und natürlich tut das manchmal einfach nur furchtbar weh. Diesen Schmerz kenne ich eben auch aus meiner Sozialisation als Mensch mit Tourette. Das ist etwas, was ich gut nachempfinden kann und wo ich mich dir auch einfach sehr nahe fühle.
Am liebsten würde ich dich jetzt mal gerne in die Arme nehmen, aber ich weiß nicht, ob das geht. Weiß nicht mal, ob du eine Lebensgefährtin oder einen Lebensgefährten hast, der dir manchmal den Rücken stärkt – ich wünsche es dir.
Gisella, wenn du magst, dann melde dich einfach wieder bei mir und wer weiß? Vielleicht können wir uns irgendwann mal gegenseitig stärken oder gucken, wie es ist, wenn die oder der andere gerade mal schwach ist...
... vielleicht passiert nichts, außer dass wir uns gegenseitig auffangen können. Das wäre doch schön, oder? In diesem Sinne wünsche ich dir noch einen schönen Urlaub mit deinen Kindern.
Alles Liebe sendet dir
Lothar
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