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Gedichte über Schmerz - Seite 324


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Unvollendet ...

In Altersheimen staut sich oft mehr Leid als nach Begräbnissen.
Klopf an die Tür deiner Großmutter, die du seit einem Jahr nicht mehr besucht hast. - Nun öffne schon, Feigling …
Ihr Blick, dir zugewandt, spricht Bände – sofern sie noch lebt.

Meine nächtlichen Träume wollen mich verführen …
In ihnen esse ich tagtäglich Fisch und Fleisch ohne Reue.

Ich sage es euch nur einmal: Ich schreibe, was ich will; in dieser Hinsicht nehme ich nicht die geringste Rücksicht;
aber du kannst sicher sein, dass ich dich nie beleidigen werde, sofern du nicht selber damit anfängst ...

In unserer Stadt singen sie immer noch das Lied meiner
großen schmerzlichen Liebe. Ich kann es echt nicht mehr hören ...
aber ich brauche dich, darling - und einen neuen Wäscheständer.
Meiner hat Diabetes – seine Füße schmerzen und er knickt jedes Mal ein, wenn ich ihn aufstellen will – Gicht und Arthrose.
Falls Sie ein gutes Hospital für ihn wissen, dürfen Sie mir den Namen mailen.

Ich sitze gerne am Deich und schaue den Schafen zu -
sie benehmen sich ähnlich dusslig wie ich mich in meiner Jugendzeit.
Das weckt Erinnerungen, die mir peinlich sind. Da muss ich durch.

In meiner Küchenschublade liegen manchmal Löffel
bei den Messern – mit voller Absicht. Sie sollen sich
besser kennenlernen. Ich weiß, dass sie über mich lästern: Ich äße zu hastig - für sie bliebe kaum etwas übrig.

Ich möchte nach Syrien fahren und mir den Tod holen …
dann ist er endlich fort von da und die Leute werden neuen Mut fassen. Aber ich befürchte, der Tod hat zu viele Freunde; man kann ihm nur schwerlich beikommen.

Gott badet im Blut meiner Seele. Manchmal hoffe ich,
er möge darin ertrinken, während ich mich freischwimme.

Der Tod wird mich holen, während ich ein Gedicht über
das Leben schreibe. Er setzt sein „unvollendet“ darunter - in krakeliger Schrift und mit schwarzer Tinte.
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Drei Worte ...

Der warme Wind stupst die Blätter der Bäume und Gräser an:
Sie leben auf und schunkeln miteinander …

Von meiner Bank aus zähl' ich die Türme am anderen Ufer:
fünf Recken, die sich zum Himmel strecken …

Der Fluss kommt in Bewegung: ein knallgelbes Ruderboot naht.
17 Mann – nebeneinander zu zweit und auch wie die Orgelpfeifen …

Am Heck steht breitbeinig der Steuermann und schreit Kommandos:
Sie schwirren übers Wasser und erschrecken die kleinen Wellen …

Ein weiteres Boot folgt, tuckert gemächlich vor sich hin:
klein und sehr weiß -; mir kommt die Isetta von 1955 in den Sinn,
Leergewicht 350 Kilogramm.

Dem grünen Riesen gegenüber sitz' ich; er spendet wankelmütige
Schatten der Gegenwart aus Chlorophyll …

Im Aug' die schön geschwungene Trave-Brücke, denk' ich an Praha
(Prag) und an die Moldau – sie mündet in meinen lieben Elbefluss …

Die Weißdornhecke, den kleinen Pfad säumend, ist längst verblüht.
Mir schwirren drei Worte ins Gedächtnis: Daliah* has gone …

Ihr Mann sprach sie am Telefon zu ihrem Manager, nachdem
sie gestorben war. Die Worte besuchen mich tagtäglich; sie gehen
mir nicht mehr aus dem Sinn: Daliah has gone …

Niemand sieht meine Tränen – ich trage die große schwarze
Sonnenbrille. - Kummer macht blind; ich weiß nicht, womit
andere Menschen gedanklich beschäftigt sind …

„Mit Rudern“, säuselt der Wind, „es muss vorangehen, Kind!“

Mein blinder Abendblick schweift übers Wasser: Trave und Moldau
fließen vereint und lächeln mir zu mit Lippen aus Schaum.

Am Ufersaum schaukeln kleine Schiffe zum Lied des Sommers,
und in den Scheiben gegenüberliegender Häuser spiegelt sich
Abendsonne.

Der Grenzbaum fällt Punkt 18:15 Uhr. - Das Kummerschiff legt
an und lässt seinen Anker in mein Herz fallen. Wehmut klettert
über die wild wuchernde Böschung und flüstert mir zu:
„Daliah has gone ...“


* Mit Daliah ist die Schauspielerin und Sängerin Daliah Lavi gemeint
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