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Gedichte über Lebensweisheiten - Seite 231


Carpe diem

Nie ist Zeit um aufzuschauen,
immerzu soll man studieren,
bis zum frühen Morgengrauen.
Wohin soll dies uns noch führen?

Wofür hilft uns das Gelerne
als zu bösem Zank und Streit.
Man wär’ bei der Liebsten gerne,
doch die weilt ferne, - meilenweit!

Derweilen läuft das Leben fort,
läßt uns rasch vergangen werden.
Endet allenthalben am selben Ort,
nämlich: Ellentief in dunklen Erden.

So, mein Freund! Geh zu! Erfrage,
wo man lacht und feiern kann.
Ungemach, auch als stete Klage,
stell nur weiter hinten an!

Was soll uns Geiz? Was soll uns Gier?
Was soll uns Edelstein und Gold?
Zechen, Schlemmen geht nur hier –
eh’ uns allzubald der Schnitter holt.

Drum nimm noch schnell von jedem!
Nimm von allem, was das Leben gibt!
Wozu also nach Reichtum streben?
Lebe Leben, damit’s dich widerliebt.

Tanzt zur Musik! Erhebt das Glas!
Singt vergnügt die alten Lieder!
Eßt und trinkt, vergönnt euch was!
Eh man’s merkt, liegt man danieder.


Copyright © da Hihö
2000


Nachtrag

"Carpe diem"
(vom röm. Dichter Horaz, etwa 23 vor Chr.)

Frage nicht (denn eine Antwort ist unmöglich),
welches Ende die Götter mir, welches sie dir, Leukonoe,
zugedacht und versuche dich nicht an babylonischen Berechnungen!
Wie viel besser ist es doch, was immer kommen wird, zu ertragen!
Gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an widrige Klippen branden läßt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier reden, ist uns bereits die mißgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!


"Carpe diem"
(Chr. Morgensterns Parodie auf Horaz’ Gedicht)

Laß das Fragen doch sein! Sorg dich doch nicht über den Tag hinaus!
Martha! Geh nicht mehr hin, bitte, zu der dummen Zigeunerin!
Nimm dein Los, wie es fällt!
Lieber Gott, ob dies Jahr das letzte ist, das beisammen uns sieht,
oder ob wir alt wie Methusalem werden: sieh's doch nur ein: das, lieber Schatz,
steht nicht in unsrer Macht.
Amüsier dich, und laß Wein und Konfekt dir schmecken wie bisher!
Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluß!
All das ist Zeitverlust!
Küssen Sie mich, mon amie!
Heute ist heut! Après nous le déluge!
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