Die Baronessa
Jedes Jahr zur Osterzeit
Kam sie ins Aqua Termale,
Trug ihr buntes Blütenkleid,
Das man schöner sich nicht male.
Sie war schon an die neunzig Jahre
Und kam vom Süden angereist
Gut frisiert die weißen Haare,
Weil sie gern das Schöne preist.
Still saß sie bei ihrem Mahle,
Königlich ließ sie sich Zeit,
Beobachtete uns im Saale,
Zum Rotweintrunke gar bereit.
Wenn sie aufstand, nahm sie mit
Bestecke – auch die Streubehälter
Und ging langsam, Schritt für Schritt
Vorbei an jedem Hinterwäldler.
Verwundert wir den Ober fragten,
Ob sie denn oben essen würde,
Weil sie uns allen immer sagten,
Das sei doch leider ohne Würde,
Der lachte und er sagte leise,
Sie wäre eine Kleptomanin,
Raubte bei jeder Urlaubsreise
Bestecke – für sie ein Gewinn.
Doch sie zahlt gut, die Baronessa,
Schwimmt und gibt allen gern Trinkgeld:
„Dafür sind wir ja schließlich da,
Sie lebt in ihrer eigenen Welt!“
Von ihr hab' ich niemals erfahren,
Ob dies Manie oder nur Spiel.
Vornehm blieb sie in all den Jahren,
Bestecke blieben stets ihr Ziel.
Da war ich doch sehr überrascht,
Wie leicht man im Hotel das nahm,
Wenn mitgenommen, reich betascht
Sie wieder in ihr Zimmer kam.
War sie im Bad, holte man ab,
Was sie alles gehortet hatte.
So hielt den Ober sie auf Trab,
Für sie war er fast wie ein Gatte.
Das hat Italien wohl besser
Mit solchen Menschen umzugehen,
Die stehlen Löffel, Gabel, Messer –
Und lächelnd kann man drübersehen...
©Hans Hartmut Karg
2021
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