Das Mauerblümchen
©Hans Hartmut Karg
2017
Am Mauerstein, drei Meter hoch,
Wächst in 'nem kleinen, engen Loch
Ein Mauerblümchen fein heraus
Und blüht, als wär's ein Blumenstrauß.
Die blauen Blüten brauchen Raum
Und dünne Stängel sieht man kaum,
Die sich am Wurzelwerk festhalten,
Um diese Mauer zu gestalten.
Die Sonne lässt es fast verdorren,
Gar mancher Käfer kommt zum Schnorren,
Was Wind und Wetter hergetragen –
Das Blümchen lässt sich nicht verzagen!
Es samt reich aus und unten leben
Die Kinder, die zur Sonne streben.
So wird der Mauerfuß lebendig:
Der Blütenreichtum strahlt unbändig!
Doch ist die Welt ein Geisterhaus:
Die Unkräuter, sie müssen raus!
Vernichtung ist jetzt angesagt,
Weil Leben sonst die Ordnung plagt.
Also besprüht man, als es helle
Die schönen Blumen an der Stelle,
Wo sie so herrlich aufgegangen
Und leuchtend wie die Sonne prangen.
Als sie schließlich dann abgestorben
Und sie das Himmelreich erworben,
War'n Weg und Mauer endlich kahl –
Alles ganz sauber, schal und fahl!
Die Mutterpflanze aber weinte,
Weil Menschen ihre größten Feinde,
Wo sie doch gegen Ödnis war
Mit ihrer großen Kinderschar!
So ging alles den Gang des Lebens,
Denn Blühen war doch wohl vergebens:
Naturabsicht als Schönheitsernte –
Der Himmel sie denn reich besternte.
So sagte sie: „Und jetzt erst recht!“
Wenn schon die Menschen gar so schlecht
Wird sie ihnen erneut beweisen,
Dass ihre Samen weit verreisen.
Sie wartete, bis ihr der Wind
Die Samenkörner nahm geschwind –
Und heute blühen überall
Die Blumenkinder ohne Zahl.
*