Im Nachbarhaus war viel Verkehr,
das merkte ich erst heute,
dort arbeitete ein Tätowierer,
er verschönerte die Leute.
Ich interessierte mich einmal dafür,
ich hatte gerade Zeit,
drum klopfte ich an seine Tür,
sie sprang gleich angelweit.
Der Meister rief: „Komm nur herein,
vielleicht bist du ein Kunde,
ich bin gerade ganz allein,
dann quatschen wir ne Runde.“
Quatschen war verkehrt gesagt,
das merkte ich sofort,
ich hab ihn nämlich ausgefragt,
wer kennt schon solchen Ort.
Er zeigte mir den Katalog
mit Mustern aller Art.
Welche Seite ich auch zog,
es ging von grob bis zart.
Jede Stelle eines Körpers,
einst nur für das Arschgeweih,
vom Kopf bis zu den Füßen,
ist jetzt der große Schrei.
Heute wird komplex gestochen,
um Riesenbilder zu deuten.
Es dauert dann zwar Wochen,
doch echte Glocken läuten.
Einen richtig schönen Mann,
das weiß doch jede Braut,
so leicht Nichts entstellen kann,
auch keine gestochene Haut.
So dachte ich naiv zumeist,
wenn ich eine Zeichnung sah
als ich durch die Welt gereist.
Und war den Seeleuten nah.
Ein Anker, Tauben, Frauennamen,
auch Schlangen sich dort zeigten
doch alle nur sehr vereinzelt kamen
und zum Hingucker neigten.
Jeder Mensch, ob Frau, ob Mann
wird doch immer älter
und wechselt oft der Partner dann,
das Tattoo behält er.
Selbst Europas Leitung mischt sich ein,
auf die Chemie nun achtet.
Es soll die Tinte recht sauber sein,
wenn man ein Tattoo betrachtet.
Man sieht so viele jeden Tag,
das Schlimmste werden alle kennen:
diesen selbstkritischen Vorschlag
mit der Halslinie „Hier abtrennen.“
Eine Frau zeigte mir ungeniert
im Warteraum des Gerichts
was sie sich so hat tätowiert:
„Lebe für alles, sterbe für nichts.“
Ein schöner Kopf, ein hohler Spruch.
Denn wer liebt Leben und Erben,
der hat mit dem Genuss genug
und denkt nicht an das Sterben.
13.02.2015 © Wolf-Rüdiger Guthmann