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Gedichte über Gefühle - Seite 2079


Schiffbrüchig

Sein Gefieder glänzte im Mondlicht wie ein Klumpen Silber.
Als ich sicher war, dass er schlief, schlich ich ans Ufer und heftete meine Seele unter seinen linken Flügel.

Ich versteckte mich im Schilf und wartete auf den Morgen.
Endlich hob er den Kopf, lüpfte die Flanken, putzte sein Gefieder und glitt ins heilige Wasser. Ich ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
Vom hohen Gras verborgen, lief ich über den Wiesen neben ihm her.

Er reckte seinen schlanken Hals empor und segelte mit stolzer Anmut über das Spiegelbild der aufgehenden Sonne: Eine friedliche weiße Galeere.

Am Großen Priel wäre ich fast über ihn gestolpert, gestern, so gegen Mittag. Er hatte den roten Schnabel im Gefieder versenkt: ein schiffbrüchiger Schwan neben einem toten Fisch.

Die großen und kleinen Gräser ringsum zitterten voller Ehrfurcht;
mein Wiesenschaumkraut neigte vornehm die weißbunten Köpfchen.
Über Deich und Elbe hing tiefe Melancholie, das Quaken der Frösche verstummte und mein Haar senkte sich über beide Augen: ein schwarzbrauner Trauerflor.

Ich sah meinen Schwan die Richtung ändern; er drehte ab
und nahm Kurs auf die Mole. Die oberen Federn seines
Gefieders hoben und senkten sich leicht wie Hände
beim Abschiedswinken. - Ich sah ihn nie wieder.

Mein Schwan ließ Kopf und Hals tief in die Elbe sinken;
ich wusste es längst: Meine Seele, kummerblind, wollte ins Wasser.

Dem Gedächtnis folgend, ging ich über das plattgetretene Gras nach Hause – betäubt und glücklich wie eine Soldatin nach
einem großen Krieg.

Schiffbrüchig fühle ich mich seither ohne Herz und Seele, aber neugeboren und stark wie der tote Fisch.
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Lied für Jerusalem (Jeruschaljim)

1.
Morgens um vier: Dein Schlaf ist so tief, dass die
Vögel darüber spazieren und tirillieren könnten,
ohne dich aufzuwecken ...

Doch dann heult der Wind vor deinem Fenster -
du schlägst die Augen auf.

Lichter flackern bedenkenlos -
das Buch auf deinem Nachttisch
springt auf und spielt kokett
mit mehreren Seiten.

2.
Sobald der Sturm sich gelegt hat,
wirst du aufstehen; die Turmuhr schlägt fünf,
draußen ist es fast hell. - Du musst nach Jeruschaljim.

Dein Lächeln besiegt alle Kriege.
Es ist ehrlicher als die Waage des
Krabbenhändlers am Hafen.

Tauben fressen dir aus der Hand,
Kinder lächeln unter Tränen, sobald du
in ihre Nähe kommst.

Wie einst Amphion durch den Klang seiner
Leier Steine bewegte und Theben erbaute,
erweckst du mit deiner Stimme Vertrauen.

3.
Das Morgenrot sammelt sich in deiner Wange.
Die Turmuhr schlägt sechs. Der Sturm hat sich
in die Strafprozessordnung geflüchtet.

Immer beharrst du auf deinem Recht -
Die Paragraphen gehen auf Zehenspitzen,
sobald wir müde sind und schlafen wollen.
Wir kommunizieren und duellieren uns verbal
und im steten Wechsel wie Eros und Anteros.

4.
Der Sommer wird uns überraschen
wie ein warmherziges Gerichtsurteil.

In meinem Gehörgang versammeln sich unsere Küsse:
Ich höre den Regen nicht mehr. Gegen Morgen träumen
wir meist von Massenamnestien für gewaltlose Journalisten.

Wir verleihen unsere Namen an zahlreiche
Petitionen in der ganzen Welt.

5.
Unsere Hände sind frei von Gold und Silber.
Ich schlucke deine Pillen, du meine.
Unser Blut spielt verrückt, total meschugge.

Du streitest für humane Altersheime,
liebevolle Betreuung mit Herz,
während ich für ehrliche Begräbnisse plädiere:
Ihr dürft uns an unseren Gräbern verfluchen,
was das Zeug hält.

Mein Herz geht stets vor dir auf Reisen
und empfängt dich in den Hotels dieser Welt
mit aktuellen Reiseführern und roten Rosen.

6.
Während du arbeitest, fahre ich mit dem Bus
durch Jeruschaljim und vergesse andauernd,
dass ich mich hier niemals für etwas bedanken darf.

Der Busfahrer drückt mir das Rückgeld in die Hand
und ich bedanke mich – abgelenkt von der faszinierenden
Stadt. - Er schaut mich ganz merkwürdig an und fragt
auf hebräisch: „Was willst du von mir?“ -

Ich liebe Jeruschaljim!
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