Unvollendet ...
Ein Gedicht von
Annelie Kelch
In Altersheimen staut sich oft mehr Leid als nach Begräbnissen.
Klopf an die Tür deiner Großmutter, die du seit einem Jahr nicht mehr besucht hast. - Nun öffne schon, Feigling …
Ihr Blick, dir zugewandt, spricht Bände – sofern sie noch lebt.
Meine nächtlichen Träume wollen mich verführen …
In ihnen esse ich tagtäglich Fisch und Fleisch ohne Reue.
Ich sage es euch nur einmal: Ich schreibe, was ich will; in dieser Hinsicht nehme ich nicht die geringste Rücksicht;
aber du kannst sicher sein, dass ich dich nie beleidigen werde, sofern du nicht selber damit anfängst ...
In unserer Stadt singen sie immer noch das Lied meiner
großen schmerzlichen Liebe. Ich kann es echt nicht mehr hören ...
aber ich brauche dich, darling - und einen neuen Wäscheständer.
Meiner hat Diabetes – seine Füße schmerzen und er knickt jedes Mal ein, wenn ich ihn aufstellen will – Gicht und Arthrose.
Falls Sie ein gutes Hospital für ihn wissen, dürfen Sie mir den Namen mailen.
Ich sitze gerne am Deich und schaue den Schafen zu -
sie benehmen sich ähnlich dusslig wie ich mich in meiner Jugendzeit.
Das weckt Erinnerungen, die mir peinlich sind. Da muss ich durch.
In meiner Küchenschublade liegen manchmal Löffel
bei den Messern – mit voller Absicht. Sie sollen sich
besser kennenlernen. Ich weiß, dass sie über mich lästern: Ich äße zu hastig - für sie bliebe kaum etwas übrig.
Ich möchte nach Syrien fahren und mir den Tod holen …
dann ist er endlich fort von da und die Leute werden neuen Mut fassen. Aber ich befürchte, der Tod hat zu viele Freunde; man kann ihm nur schwerlich beikommen.
Gott badet im Blut meiner Seele. Manchmal hoffe ich,
er möge darin ertrinken, während ich mich freischwimme.
Der Tod wird mich holen, während ich ein Gedicht über
das Leben schreibe. Er setzt sein „unvollendet“ darunter - in krakeliger Schrift und mit schwarzer Tinte.
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