Gedanken beim Besuch einer gotischen Kathedrale
Ein Gedicht von
Eva Pietsch
Durch eines der reich geschmückten Portale
betrete ich die gotische Kathedrale.
Säulen, Reliquien, güldene Schreine,
unter mächtigen Grabplatten bleiche Gebeine.
Edles Gewölbe, pompöse Gemäuer
bezahlt und erbaut mit erpresster Steuer
von Menschen, die vom Nötigsten für ihr Leben
gezwungen wurden, reichlich zu geben.
Allein durch das Beten von Rosenkränzen
wär’ kaum gelungen, diesen Dom zu kredenzen.
Wie viele sind beim Bau abgestürzt?
Und wem hat man den kargen Lohn gekürzt?
Sich der Selbstbereicherung nicht zu schämen
und den Armen das letzte Hemd noch zu nehmen,
waren viele Bauherren sich nicht zu schade,
und das genau empört mich gerade.
Willst, Gott, Du in derlei Architektur wirklich wohnen
und der Bauherren Doppelmoral dadurch belohnen?
Macht Dich, Lieber Gott, das nicht auch betroffen:
Sie haben Wasser gepredigt und Wein gesoffen.
Es treibt mich aus diesem „Gotteshaus“,
kaum bin ich drinnen, schon wieder hinaus.
Demut geriet hier in Vergessenheit
und wurde zu Prunkversessenheit.
Woher kommt bloß das viele Gold?
Lieber Gott, hast Du das wirklich gewollt?
Die mächtige Höhe und der goldene Schein
machen den Menschen vor diesem Bauwerk ganz klein.
Es bedarf für die Zwiesprache mit Dir
doch keines Palastes wie diesem hier!
Wo von Herzen Menschen Dich einzutreten bitten
bist Du bestimmt gern zu Gast in bescheidenen Hütten.
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