Das Gebiss

Ein Gedicht von Christoph Hartlieb
…. Wer älter wird, merkt dies gewiss
auch eines Tages am Gebiss.
Dies fehlte ihm am Anfang noch,
als er ans Licht des Kreißsaals kroch.
Doch für den unbezahnten Knilch
erfand Natur die Muttermilch.
Die lässt sich schlucken und verdauen,
auch ohne sie vorher zu kauen.
…. Darauf begann das Paar der Kiefern
die ersten Beißerchen zu liefern,
was meistens in der Nacht passierte
und arge Wachstumsschmerzen schürte,
was seinerseits mehr, als man glaubt,
den Eltern Schlaf und Ruhe raubt,
worauf er ohne Kompromiss
in alles, was ihn reizte, biss:
Waschpulver, Schnecken, fremde Finger,
Bonbons und Wagners Meistersinger.
Der Umfang dieses Schabernacks
trug bei zur Bildung des Geschmacks,
weil man in Lauf der Zeit entdeckt:
Nicht alles, was gut aussieht, schmeckt.
…. Doch Erdenpracht wird überall
bedroht von Schrumpfung und Verfall.
Der Zahn der Zeit ist sein Begleiter;
er nagt und nagt und nagt stets weiter.
Auch Zähnen, noch so fest und hart,
bleibt dieses Schicksal nicht erspart.
Das ehemalige Idyll
verkrümelt sich im Wohlstandsmüll.
Der erste Schultag mit der Tüte,
als er vor Stolz und Neugier glühte,
mit dem Tornister auf dem Rücken,
im Zahngehege breite Lücken.
…. Nichts blieb von dieser Doppelreihe.
Doch welch ein Glück, es wuchsen neue.
Die pflegte er mit Fluorpaste
und einer Schweineborstenquaste,
um alle schädlichen Bazillen
zu unterdrücken und zu killen.
…. Doch diese, keineswegs verloren,
begannen, bis ins Mark zu bohren.
Als dann der Schmerz im Schmelz rumorte,
blieb nur, dass ein Experte bohrte.
Das Opfer hing, betäubt vor Qual,
im zahnärztlichen Marterpfahl,
spie seine Angst in einen Kübel
aus Angst vor noch mehr Angst und Übel.
…. Der Zahn der Zeit beißt allgemein
zwar langsam, aber gründlich klein.
Die Zahl der Zähne schmolz zusammen,
wie Holz verkohlt in Feuersflammen,
und jetzt benutzt er ein Gebiss
gemäß dem Spruch: Stirb oder friss!
Er kann es leicht beiseite legen,
penibel reinigen und pflegen,
und hat, weil´s nicht vergammeln kann,
vielleicht noch lange Freude dran.
Hat ihn der Tod in seinen Krallen,
sind Fleisch und Knochen längst zerfallen,
dort in des Grabes Finsternis
bleibt eins erhalten: Sein Gebiss.
Silesio

Informationen zum Gedicht: Das Gebiss

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26.04.2023
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Christoph Hartlieb) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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