Das Laufgitter
Ein Gedicht von
jogdragoon
Am frühen Morgen prophezeite ein blauer Himmel einen schönen Tag.
Ein kühler, leichter Wind spielte mit den Blättern der hohen Bäume auf dem Bergrücken.
Tina Eipas Hund bellte.
Sie setzte ihre Teetasse ab, schaute ihn an und sagte:
„Ja, lass uns heute mal ins Dorf gehen. Ich möchte gerne mal ein paar Menschen um mich haben.“
Jugendlich spielerisch gingen sie den Berg hinab ins Dorf.
Dort angekommen, setzte sie sich auf eine Bank und streichelte, ganz in Gedanken versunken, ihren Hund.
Die Menschen wuselten herum, unterhielten sich aufgeregt miteinander. Alles wirkte unharmonisch hektisch.
Getrieben, unruhig, gelangweilt, gebückt, belastet, lärmend.
So wirkten sie auf Tina.
Tina sah ihren Hund an, streichelte ihn erneut und sagte:
„Auch wenn ich ihre Handlungen, Worte und Gedanken respektiere und Verständnis dafür habe,
so kommt mir das hier alles doch vor, wie ein Blick in ein Laufgitter mit Kleinkindern:
Mit einem Schnuller im Mund und Windeln um, torkeln sie unbeholfen durch die Gegend.
Sie stoßen sich häufig am Gitter und weinen, schreien, klagen und trampeln mit den Füßen auf den Boden.
Andere spielen mit lustig blinkenden Bauklötzchen und brabbeln sinnloses Zeug vor sich hin.
Viele sind süchtig und gierig nach Neuem und nach Dingen, die Leiden schaffen.
Ja, die Leidenschaften und die Neugier !“
Sie seufzte und sprach weiter:
„Plakatwände sind überall im Laufgitter angebracht.
Auf ihnen werden täglich angsteinflößende Bilder und Geschichten voller Schmerz, Gewalt und Haß gepredigt und gezeigt.
Nur sehr wenige versuchen, ihren Schnuller auszuspucken, ihre Windeln wegzuschmeissen und
mit ihren Bauklötzen eine Treppe zu bauen, um über das Laufgitter zu steigen.
Doch immer wieder sieht man andere an ihnen zerren und reissen, um sie zurück ins Laufgitter zu ziehen.
Dann sagen sie noch ‚Ich will doch nur, dass es Dir gut geht!‘ und versuchen,
ihnen wieder Windeln anzuziehen und ihnen einen Schnuller in den Mund zu stecken.
Wenn ihnen das nicht gelingt, so beschimpfen, verunglimpfen und beschuldigen sie haßerfüllt und vorwurfsvoll die Ausreisser.“
Der Hund freute sich sichtlich über Tina’s Aufmerksamkeit und legte seine Schnauze auf ihr Bein.
Sie fuhr fort:
„Die wenigen, die das Laufgitter überwunden haben, schauen sich um.
Für sie hat sich eine neue Welt eröffnet. Eine neue Welt, in der sie voller Freude und Liebe wirken werden.
Ihr Blick zurück zum Laufgitter ist wie der Blick im Zoo in einen Affenkäfig,
in dem die Affen meinen, dass die Menschen auf der anderen Seite hinter Gittern leben.“
Dann stand Tina auf, lächelte und ging zu einem Gemüsehändler, um sich etwas zu kaufen, was sie selbst nicht in ihrem Garten anbaute.
Ihre innere Ruhe übertrug sich auf ihn und auch er begann zu lächeln.
*
Wer sich nicht mit geradem Rücken erhebt
und nach Entfaltung strebt,
wer Lüge und Gewalt kultiviert,
Leiden schafft und nach Neuem giert,
wer liebevolle Menschen zu sich herunter zieht,
um weiter tief zu schwingen,
dessen Lied
wird erklingen:
„Ich bin der, der ich bin und lasse ohne Streben
.. mich freiwillig vom Außen leben !“
Dieser wählt immer wieder
das Kleid
vom selbstgewählten Leid
© jogdragoon
Bibat ex me qui potest