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Gedichte über den Tod - Seite 104


Das sterbende Kind '19

Das sterbende Kind '19
Es schreit „Hilfe“, aber niemand hilft.
Es schreit „Du da!“, aber niemand ist ‚du da‘.
Es schreit „Notfall“, aber nicht in ihren Augen.
Es schreit „Sterbe!“.

Und abends auf dem Sofa, die Alten und die Jungen starren entsetzt auf den Fernseher.
Die Frau in rosaroter Bluse erzählt von einem Mädchen, unserm‘ Mädchen.
Es starb auf der Straße unter tausenden von Menschen, die hätten helfen können.
Aber was wichtig war musste man erledigen, denn was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen und weil heute noch was ansteht, sonst wird es zu spät.

Und da war der Eintopf für den Mittag vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Denn es war viel zu tun, zu viel zu tun und Zeit ist Geld, ja Zeit ist Geld. Zeit ist Geld … und weil Zeit Geld ist will jeder alles noch heute besorgen, denn was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, weil Zeit Geld ist und Geld Zeit ist und alles nur für Große sinnvoll ist und richtig!
Und das sterbende Kind, es liegt auf der Straße, ganz allein und es schreit sich die Seele aus dem Leib, aber doch nicht über Zeit und Geld und über was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

Die Leute sagen: Kinder schreien immer – wie nervig! Tag und Nacht.
Aber… hast du die Wunden nicht gesehen? Hast du die Verzweiflung nicht gesehen? Hast du die Angst nicht gesehen?
Papperlapapp!

Und da war das kaputte Fenster vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und die, die nichts hören wollen, stellen vielleicht den Fernseher lauter, denn ihre Probleme sind eh viel wichtiger.
Die Frau, die sich geschnitten hat und der Sohn mit der Note drei in Deutsch. Aber wahrscheinlich sind der Schnitt und die Note wichtiger als das sterbende Kind.
„Ist nicht unser Kind, soll es machen, zu was es bestimmt.“
Aber da ist keine Bestimmung. Da ist keine Zukunft.

Denn mit ‚was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‘ und ‚Zeit ist Geld, Geld ist Zeit‘ kann sie nichts mehr anfangen.
Und weil die Menschen ihre Zeit zu Geld gemacht haben und weil sie das, was sie besorgen mussten, nicht auf morgen verschoben, essen sie jetzt vom Feinsten.
Und weil das Kind nur geliebt werden wollte, liegt es im Dreck.

Das sterbende Kind, das sterbende Kind.

Ihr Vater macht es ebenso und damit geht’s ihm gut.
Doch seine Tochter liegt auf der Straße, sie liegt dort in ihrem Blut.
Und während es dämmert und sie sieht die Sonne untergehen, sie gibt ihm noch eine Sache zu verstehen. Als Vater versagt, die Mutter war weg und das einz’ge Kind, es auf der Straße verreckt. Doch da war der Kunde im Laden vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und der Eintopf und das Fenster und die Noten und der Schnitt.

Eine Umarmung oder ein Kuss? Das ist zu viel verlangt.
Denn da waren der Eintopf, das Fenster, die Noten und der Schnitt vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.

Es schreit „Liebe mich“, aber er kann es nicht.
Es schreit „Vater“, aber er hört sie nicht.
Es schreit „Mama“, aber es ist nur ein fremdes Wort.
Welche der Frauen soll das schon sein? Die Hebamme, die die es austrägt oder die Erzieherin?

Und da war die Suche nach der Bedeutung vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und deswegen erliegt das sterbende Kind – auf der Suche nach ein wenig Liebe!
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