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Gedichte über Schmerz - Seite 360


Hallelujah

Auf wunden und wackligen Kabenfüssen schlugen sie mich eisig durch die viel zu engen, verwinkelten Gassen der versteinerten Vernunft. Sie falteten scheinheilig ihre Hände und predigten das "Hallelujah", schmissen Öl und Myrrhe vom drohenden Berg Golgatha. Sie trieben mir stumpfe Keile und rostige Ketten in die Gehirngänge, das Lebendige sollte stocken, sie kreuzigten mich mit kaltgepresster Gottesfürchtigkeit, schlugen mich mit gnadenlosem Arbeitszwang und segneten mich mit Hungertuch und Peitsche. Ihre Herzlosigkeit war grenzenlos, mein Futterneid sollte mich so verdient nötigen, dass selbst hungernde Kinder aus der dritten Welt sich noch satter zu fühlen wussten. Sie spielten Adam und Eva, nackt und unschuldig auf der Heide. Sie beschmierten mein waches und hoffnungfrohes Sonnengesicht mit Fäkalien und verhöhnten mich im verwunschenen Garten Eden, am wunderschönen Sommertag. Sie zwangen mich mit bösem Blick, dreimal verleugte ich mich selbst vor der viel zu nasenweisen, in die Jahre gekommenen Nachbarin, die alles genau zu bezeugen wusste. Bittere Stunden, ein verträumtes und geordnetes Tausend-Seelen-Dorf, das sich in schwäbischer Sparsamkeit und demütiger Gemütlichkeit gesund aalte, das zu jeder Gelegenheit und Jahreszeit sich selbst zu feiern, die unpassende Leerzeile des Lebens geschickt ignorieren oder gekonnt zu löschen wusste. Meine Träume verwandelten sich in millionenfache Splitterscherben der Verzweiflung, diese trieben sie mir bewusst und gezielt ins innere Auge, ins Mark, ins arme Herz.

Sie nannten es Kindheit, ich färbte den Schnee , mal rot, mal schmolz er. Im Haus der geraubten Seelen fragten sie mich fadenscheinig nach meiner Lieblingsfarbe. Ob ich wüsste, wer mir die Augen verbunden hätte und wer mich zeugte? Ob ich wüsste, dass meine Mutter eine Hure sei und Gott mein Vater? Meine Zunge gefror, während ich unter den verlassenen Fichten im Tal suchte, als ob ich es wirklich ernst meinen könnte. Doch ich hatte weder mich noch das Licht verloren. Rechtlos, ich wurde nie liebevoll empfangen oder herzlich gefunden, ich war in mir selbst gefangen, in der Erbsünde. Weder unter den schwarzen Schatten, noch unter den Sensen in der Gerätekammer, wo sie mich als Strafe für Stunden einsperrten, nirgends fand sich mir ein warmer Blick der Zuwendung. Mir war klar, das Sehen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen war schlichtweg unerwünscht und strikt verboten. Ein moderner Sklave, ein Sklavenkind. Von Beginn an wollte ich flüchten, weit weg. Es blieb beim hilflosen Wunsch, bei Ohnmacht und Wut, einem nie endenden, schrillen Fluch, der sich ins fremdelnde Meer stürzte, versammelt, zu all den verlassenen, untergegangenen Wellen. Niemand hatte mich geliebt oder war dazu geneigt. Ich wusste auch nicht wer die Liebe erfunden hätte. Mir war es ein Rätsel, warum es bei allen anderen Mitmenschen anscheinend so reibungslos funktionierte. Ein dunkles Stück Leben im Schattenblick der Sonne. Es türmte sich Schmerz, höher und höher die Klagemauer, die Lieder verschroben ins Innere gedrängt, noch sprachloser die vergilbten Sterne am Himmel gaffend, der Wind blies nach Lust und Laune ins Strohfeuer, von allen Seiten, es gab kein Entrinnen. Ich kannte genau die Lichtquellen, den Übergang des Schattens von dunkel zu hell.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mein abschliessbares Tagebuch lag eines Morgens gewaltsam geöffnet auf dem Tisch, meine Geheimnisse weinten entweiht über das verhasste Tischtuch, mir stockte der Atem über soviel Wahn. Sie nannten sich Vater und Mutter. Von da an schrieb ich nie wieder..




© Marcel Strömer
[Magdeburg, den 06.05.2019]


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Das sterbende Kind '19

Das sterbende Kind '19
Es schreit „Hilfe“, aber niemand hilft.
Es schreit „Du da!“, aber niemand ist ‚du da‘.
Es schreit „Notfall“, aber nicht in ihren Augen.
Es schreit „Sterbe!“.

Und abends auf dem Sofa, die Alten und die Jungen starren entsetzt auf den Fernseher.
Die Frau in rosaroter Bluse erzählt von einem Mädchen, unserm‘ Mädchen.
Es starb auf der Straße unter tausenden von Menschen, die hätten helfen können.
Aber was wichtig war musste man erledigen, denn was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen und weil heute noch was ansteht, sonst wird es zu spät.

Und da war der Eintopf für den Mittag vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Denn es war viel zu tun, zu viel zu tun und Zeit ist Geld, ja Zeit ist Geld. Zeit ist Geld … und weil Zeit Geld ist will jeder alles noch heute besorgen, denn was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, weil Zeit Geld ist und Geld Zeit ist und alles nur für Große sinnvoll ist und richtig!
Und das sterbende Kind, es liegt auf der Straße, ganz allein und es schreit sich die Seele aus dem Leib, aber doch nicht über Zeit und Geld und über was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

Die Leute sagen: Kinder schreien immer – wie nervig! Tag und Nacht.
Aber… hast du die Wunden nicht gesehen? Hast du die Verzweiflung nicht gesehen? Hast du die Angst nicht gesehen?
Papperlapapp!

Und da war das kaputte Fenster vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und die, die nichts hören wollen, stellen vielleicht den Fernseher lauter, denn ihre Probleme sind eh viel wichtiger.
Die Frau, die sich geschnitten hat und der Sohn mit der Note drei in Deutsch. Aber wahrscheinlich sind der Schnitt und die Note wichtiger als das sterbende Kind.
„Ist nicht unser Kind, soll es machen, zu was es bestimmt.“
Aber da ist keine Bestimmung. Da ist keine Zukunft.

Denn mit ‚was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‘ und ‚Zeit ist Geld, Geld ist Zeit‘ kann sie nichts mehr anfangen.
Und weil die Menschen ihre Zeit zu Geld gemacht haben und weil sie das, was sie besorgen mussten, nicht auf morgen verschoben, essen sie jetzt vom Feinsten.
Und weil das Kind nur geliebt werden wollte, liegt es im Dreck.

Das sterbende Kind, das sterbende Kind.

Ihr Vater macht es ebenso und damit geht’s ihm gut.
Doch seine Tochter liegt auf der Straße, sie liegt dort in ihrem Blut.
Und während es dämmert und sie sieht die Sonne untergehen, sie gibt ihm noch eine Sache zu verstehen. Als Vater versagt, die Mutter war weg und das einz’ge Kind, es auf der Straße verreckt. Doch da war der Kunde im Laden vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und der Eintopf und das Fenster und die Noten und der Schnitt.

Eine Umarmung oder ein Kuss? Das ist zu viel verlangt.
Denn da waren der Eintopf, das Fenster, die Noten und der Schnitt vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.

Es schreit „Liebe mich“, aber er kann es nicht.
Es schreit „Vater“, aber er hört sie nicht.
Es schreit „Mama“, aber es ist nur ein fremdes Wort.
Welche der Frauen soll das schon sein? Die Hebamme, die die es austrägt oder die Erzieherin?

Und da war die Suche nach der Bedeutung vielleicht wichtiger als das sterbende Kind.
Und deswegen erliegt das sterbende Kind – auf der Suche nach ein wenig Liebe!
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