Wortlust II
Ein Gedicht von
Lothar Schwalm
Schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
sitze, schwitze und zerlese – Bücher wie einen Löcherkäse,
fließen, fließen, Silben sprießen – wie
Hülsenfrüchte aus dem Boden schießen /
Blätter – rascheln, Blätterwald, Retter basteln Wetter bald,
Kinder tanzen froh im Regen, Nässe, Nüsse, Küsse, Kindersegen,
Tau-send Tropfen pitschen patschen,
Tintenkleckse klitschen klatschen,
auf Papyrus, grüne Gräser, während kleine Tintenfässer,
eingedrückt in weiche Erden, darauf warten, geleert zu werden,
wilde Pflanzen, Honigblumen blühen auf und Bienen summen
Kanon-aden wilder Reime,
gelb-schwarz-gelbe Streifenträume
stechen, stanzen Impressionen,
Blasen blubbern Seifenschäume,
Buchstaben schaffen Illusionen,
Bilder, die die Welt bewegen, meine Phantasien anregen,
die mich noch verrücken können, Distanzen überbrücken können,
mich Leeren überwinden lassen,
bis Gefühle sich in Worte fassen, 100194
Luftballons vor Freude platzen,
Schuhkartons im Keller schmatzen,
Ratten sich an ihnen reiben, darum muss ich
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
Mäuse mausen mir Papier, und ich neige zu vergessen,
ich bin nicht zu Hause hier,
an einen Baum gelehnt höre ich sie fressen,
spüre Echsen mit Vielfarbenklecksen
unter mir meine Hände streicheln,
sehe Regen meine Worte meucheln,
Fluss des Lebens, schwarz, weiß, rot,
Kuss des Bebens, nur der Tod ist tot,
zittere, wittere – neue Ergüsse
des Himmels, meines Hirns, meiner Lendenküsse,
Lust und Schreiben unumwunden,
eng umschlungen einander verbunden,
Schreiber bis zur Leere geschunden
wie ein Wolkenbruch mit jungen Hunden,
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
Tag und Nacht Gedankenfetzen,
die in Reimen keimen, Silben, Sätzen,
sich in mein Papier einätzen, ohne es doch zu verletzen,
ungebleichte, zellulose – Gedankengänge in die Hose,
Stapel, Stöße, die sich füllen,
Lebenshunger in Dunkelheit hüllen,
Durstgeschöpfe im Stillen stillen,
um zu ihrer Zeit wieder hervorzuquellen,
wild und wogend, ungebrochen, Herzen, die noch immer pochen,
unverbrämt, -verschämt, -gezähmt,
Fontänen voller Freude spritzen,
Glockenblumen, Glücksfeen gießen
Liebeslust und -leid mit süßen
Düften, Blüten, leck'ren Früchten,
aus auf grüne Tummelwiesen,
Obst- und Wortsalat, -geschichten,
die mich, wie ich sie, genießen,
sich mit mir heiß und innig reiben,
bis Gedichte sich von selber schreiben,
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
muss was sagen, geben, zeigen, saugen, gucken und beäugen,
Schriften stiften, in Grüften schuften,
Düfte lüften, wo Lüfte duften,
Sinne rauben mir mein selbst,
Chinesen nennen diese Zeit den "Helbst",
alles schwimmt und springt und sticht
in See, in lichte See, ins Licht,
nur das Nichts, das tut es nicht,
denn das täte ziemlich weh,
und plötzlich eilt die Glockenblumenfee
herbei und kühlt den Schmerz mit weißem Schnee /
Tauben, Trauben, Tränen triefen
aus traurig dunklen Abgrundtiefen /
Schluchten, Buchten, die mich fangen,
wie ich Bilder fange,
wie ich Schmetterlinge beobachte,
um sie davonfliegen zu sehen,
sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken,
sich die Finger nach dem Schreiben lecken,
unbezähmbar meine Gier, nach Tinte, Feder und Papier,
hier und jetzt und jetzt und hier,
aus ICH wird MICH, aus MEIN wird MIR /
ist nach
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
bis die Spatzen von den Dächern platzen,
bis die Pfeifen vor Neid ersticken,
bis die Blässe vor Scham im Boden verglüht,
bis versunkene Sonnen im Meer versäumen,
von Wortgewändern weich zu träumen,
zu spät, zu spät, es ist soweit,
"Nimm Dir, nimm Dir!", mahnt die Zeit,
meine Seele will mitteilen,
bis in alle Ewigkeit...
...darum muss ich schreiben, schreiben, schreiben...
ls150194
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