Wortlust I

Ein Gedicht von Lothar Schwalm
Schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,
sich an Buchstaben laben, Geschichten erleben, am Leben kleben,
die Welt, die kommt erst übermorgen, kannst Du mir Deine Feder borgen?
Briefsuppe, Gedankenpuppe, ich lese Geo, Emma, Freundin, und...
der Stern, der ist mir völlig Schnuppe,
Äste, Bäume, Blätter-Wälder, streife durch Papierkorbfelder,
wühle, suche, finde, Worte, die mich tragen wie laue Winde /
von ihm verweht, verdreht, vergeht, entsteht,
Denken, Fühlen, Lachen, Schreien,
all das gehört in mein Leben hinein,
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,

alles nehmen, -wollen, greifen,
Gedanken, die zu Sätzen reifen,
Gedichte für die Nichte, ein Limerick für Friederick,
Lyrik für Erik und Prosa von Raunheim für Rosa von Praunheim,
alles da, alles hier und alles jetzt, ein Kanon, der sich selber hetzt,
das Leben in Fetzen, von Gefühlen gejagt,
ohne dass jemand nach Befindlichkeiten fragt,
alles sehen, hören, riechen, schmecken,
sich die Zunge nach dem Fühlen lecken,
überfluten, überfließen, und das ganze Glück genießen,
Phantasiefontänen, die nach oben schießen,
Geistesblitze, die ins Freie sprießen,
kritzeln, krakeln und orakeln,
auf Wolkeninseln bunte Träume pinseln,
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,

nach Textbruchstücken lechzen, ächzen, geiern, geifern,
sich mit Worthülsen um die Wette ereifern,
in tiefe Buchstabenseen tauchen,
und 'ne Rettungsweste brauchen,
tagein, tagaus in Silben denken
und den Bücherwurmmordverdacht auf die Milben lenken,
um Mitternacht dem Mond vorlesen,
als wäre der Tag nie da gewesen,
Bett- und Kakerlaken voller Tintenspritzer,
denn Du hast kein' Bleistiftspitzer,
mittags dann die Sonne anheulen,
um sie schleunigst zu vergraulen,
Nacht, Nacht, Nacht, wo bleibst Du bloß?
Komm her zu mir, in meinen warmen Schoß
Muss Tageslicht mich ständig quälen?
Ich will dem Mond eine neue Geschichte erzählen.
Lass mich, lass mich endlich raus,
aus meinem Menschenschneckenhaus,
ich will, ich will, ich will, ich will
schreiben, schreiben, schreiben, Wortfragmente einverleiben,

bis ich nicht mehr kann,
bis ich nach Luft ringe, bis der Lauf der Dinge
mir Sprache und Gedanken nimmt,
und ein Buchstabe nach dem anderen in der Atmosphäre verglimmt,
bis gar nichts mehr zu sagen ist,
und ein Bücherwurmfreund aus Rache Milben frisst,
bis alles, selbst das Nichts, vergeht
und nicht einmal dieser Satz mehr steht...

aber solange muss ich schreiben, schreiben, schreiben...


ls151193

Informationen zum Gedicht: Wortlust I

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23.07.2011
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