Mein Kirschbaum

Ein Gedicht von Ingelore Jung
Mein Kirschbaum

Im Garten meines Elternhauses steht ein Kirschbaum. Vor über 90 Jahren von meiner Urgroßmutter gepflanzt, der mir sehr viele Erinnerungen schenkt. Doch ist mein Baum inzwischen ganz schön krumm geworden. Oft stehe ich vor diesem Baum, bewundere seinen jetzt ach so verknöcherten Wuchs. Er sieht recht bizarr aus und ist dadurch aber wahnsinnig beeindruckend.

Aus dem einst so stattlichen, so hoch aufstrebenden Kirschbaum aus meinen Kindertagen ist inzwischen ein sehr alter Baum geworden. Was wurde er in all den Jahren schon so oft gestutzt. Da musste er bestimmt immer ganz viel darunter leiden. Streckt sich nun nicht mehr hoch zum Himmel. Er breitet seine stämmigen Arme nur noch seitlich aus. Aber an manchem Arm sieht es aus, als strecke er doch noch Hände zum Himmel hoch. Als würde er sagen, "seht her, ich versuche mich trotzdem noch leicht zu strecken." Seine Tage werden aber langsam gezählt sein. Das Alter eines Kirschbaumes soll so bei etwa 100 Jahren liegen. Wie oft sollte er schon gefällt werden. Doch durfte er letztendlich immer weiter leben, mir sehr zur Freude.

Ein stämmiger Ast hat sich so sehr in die Waagerechte gelegt, wird abgestützt, dass er nicht bricht. Inzwischen ganz bemoost und von Efeu umrankt. Dieser Anblick, wie sich ein Baum in den Jahren total verändern kann, lässt mich immer wieder Erstaunen. Erinnert mich dann immer an uns Menschen. Denke mir, wie nah wir uns doch sind. Ob er wohl unter dieser Veränderung sehr leidet? Ob er mich überhaupt noch erkennt? Das kleine Mädchen mit den langen Zöpfen?

Die einst so herrlichen, überreichlichen weißen Blüten im Frühjahr werden von Jahr zu Jahr auch spärlicher. Die Kirschblüten waren für mich die allerschönsten Blüten. Der Stamm hatte immer einen strahlend weißen Hut auf, wie dick bestäubt mit Puderzucker. Ein üppiges weißes Blumenmeer. Wenn die Blüten so langsam zu Ende gingen, dann rieselten sie wie Schneeflocken hernieder. Das satte grüne Blattlaub, sich sanft hin und her wiegend im Wind, als wollten die Blätter alle gemeinsam tanzen. Dann die Früchte, diese wunderbaren fast schwarzen, leicht herzförmigen Süßkirschen, sind auch nicht mehr so zahlreich. "Oh, was hast du mir deine Kirschen in meiner Kinder- und Jugendzeit, als ich noch jeden Tag bei dir war, allezeit zu meinem Geburtstag reichlich geschenkt".

Tag für Tag beobachtet, wann denn nun endlich die Kirschen rot werden. Von den herrlichen weißen Blüten, zu den kleinen grünen Klicker bis zu dem leichten Rot. Hüpfend um den Baum, gesprungen und gejauchzt, endlich, endlich, bald habe ich Geburtstag. Denn so langsam wurden die erbsigen Früchtchen mobbeliger, zart in rot und dann schließlich prall und fast schwarz. Jedes Jahr Mitte Juni waren sie immer reif zum Pflücken. "Du hast mich nie enttäuscht, deine Kirschen waren zu dieser Zeit immer reif und zuckersüß und du hast sie mir Jahr für Jahr immer zum Geschenk gemacht". Ach, was habe ich von diesen Früchten so viel genascht. Die Kirschen aufgebissen, das Innerste betrachtet, auch mal nachgesehen ob nicht doch mal ein Würmchen drin steckte. Habe ich aber wirklich nie gefunden. Meine Großmutter sagte mir immer, dass es keine Würmer in diesen Kirschen gibt. Das könnte ich ihr ruhig glauben. Saftig, blutrot, weichfleischig und süß war diese feine Frucht.

Die Freude war immer riesengroß, wenn ich zwei Kirschen, verbunden zu einem Stil, pflücken konnte und sie mir dann als Schmuck über die Ohren gehängt habe. Um dann so überglücklich um diesen Baum zu tanzen. Stolz und erhobenen Hauptes habe ich diese um die Ohren getragen wie funkelnde, blutrote Edelsteine. Die Kirschkerne auch oft gesammelt, vorher aber jedesmal schön abgelutscht bis sie blitzeblank waren. Dem Baum oft gedankt für diesen Genuss. Heiße Kirschen mit Eis, Kirschkuchen, Kirschenmichel und Waffeln mit Kirschkompott und Sahne. Oh, das waren alles köstliche Gerichte. Nach dem Ernten der Früchte, viele sind an der Krone hängen geblieben, da waren sie dann Futter für die Vögel.

Den Jahreslauf immer voller Spannung beobachtet. Wenn das Blattwerk nun nur noch in grün erschien, in der Krone noch vereinzelt hier und da eine rote Frucht versteckt geblieben war. Gegen Herbst, wenn die Blätter sich langsam verfärbten. Bei jedem Windstoß sich wieder ein Blatt davonmachte, bis der Kirschbaum nur noch in seinem kahlen Geäst da stand. Im Winter, bei Schnee, war sein Haupt wieder üppig weiß bedeckt. In seinen Ästen hier und da dann ein Meisenknödel baumelte. Und dann wieder das Warten auf den Frühling, auf die herrlichen, wunderschönen weißen Blüten. Zuerst aber waren als Vorboten, zahlreich zu seinen Füssen, die Schneeglöckchen zu entdecken.

Wenn ich heute meine Eltern besuche, stehe ich oft vor meinem Kirschbaum und danke ihm jedesmal für all die wundervollen Erinnerungen und Erlebnisse die ich mit ihm hatte, meinem Geburtstagsbaum. Ehrfurcht vor diesem einst so stattlichen Baum, Achtung vor dem jetzt alten, so bizarren, Gewächs. Dankbarkeit in meinem Herzen, wie funkelnde Sterne glitzern meine Augen, im leichten Tränenschleier. Streichle ganz zart seine Rinde, spüre die Wunden all der Jahre und sage ihm leise: "Danke, es war eine schöne Zeit mit dir mein Baum. Ich hoffe aber sehr, dass ich noch einige Jahre zu dir kommen darf."

© Ingelore Jung
2013

Inzwischen musste leider mein Kirschbaum im Jahre 2017 gefällt werden.
Und Ende 2017 ist auch mein Vater verstorben.

Informationen zum Gedicht: Mein Kirschbaum

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15.02.2020
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