Kirchenschlaf

Ein Gedicht von Christoph Hartlieb
---- Ein äußerst düsteres Kapitel,
das ich voll Abscheu hier bekrittel,
obwohl´s seit jeher viele traf,
ist der berühmte Kirchenschlaf.
Er gilt, belauscht man Volkes Mund,
als heilsam, stärkend und gesund,
weswegen, wenn auch viele spotten,
es kaum gelingt, ihn auszurotten.
---- Obwohl die echte Kirchenbank,
man muss fast sagen: Gott sei Dank,
sei es durch Zufall oder List,
so hart und steif gezimmert ist,
dass jeglichem Gemeindeschäfchen
vergeht der Wunsch nach einem Schläfchen
und diese Bank dem, der sie kennt,
erscheint als Marterinstrument,
wo er vor Unbequemlichkeit
und Qualen innerlich laut schreit,
sieht feiertags im Gotteshaus
die Praxis oft erschütternd aus.
---- Wer erst in frühen Morgenstunden
hat seinen Weg ins Bett gefunden,
wird überwältigt von dem Sehnen,
den Mund zu öffnen, um zu gähnen,
wobei es ihm zunächst noch glückt,
dass er den Anfall unterdrückt.
Doch dann verstummt der Lärm der Lieder;
derselbe Drang quält ihn schon wieder,
und zwar noch schlimmer als vorher.
Der Widerstand fällt doppelt schwer.
Jetzt würde er es sehr genießen,
die müden Augen sanft zu schließen,
was er sich, mehr und mehr ermattet,
zwar zögernd, aber doch gestattet,
zumal er beinah mühelos
auch Gründe hat für den Verstoß,
wie Buddha einst am Gangesstrand
Erleuchtung und Erlösung fand,
der offnen Sinns, doch Augen zu
emporstieg in Nirvanas Ruh.
---- Erst konzentriert er sich noch frei,
dann legt sich ein Gewicht wie Blei
auf Augenlider und Verstand
und nimmt zusehends überhand.
Das Haupt, das meistens hoch erhoben
getragen wird, senkrecht nach oben,
beginnt nach einer der vier Seiten
ins Waagerechte abzugleiten,
wodurch, für alle wahrnehmbar,
sein Gleichgewicht kommt in Gefahr.
---- Ein Zweiter, daran nicht beteiligt,
der wachen Augs den Sonntag heiligt,
erwägt dann wohl gedankenvoll,
ob er den Schläfer wecken soll,
der seitlich in sich selbst verbogen,
von Erdenschwerkraft angezogen,
im nächsten Augenblick wie tot,
doch krachend umzukippen droht.
Drum überlegt er fieberhaft,
wie er es ohne Aufsehn schafft,
dass er ihm Schmerz und Leid erspare
und ihn vor Spöttelei bewahre,
von Jesu Forderung getrieben,
den andern wie sich selbst zu lieben.
---- Zivilcourage ist nicht leicht,
weswegen meist viel Zeit verstreicht,
bis er die Folgen seiner Tat
bedacht und durchgerechnet hat,
anstatt auf Anhieb und spontan
auch auszuführen seinen Plan.
Wer Gutes tun will, tu´s sofort,
bevor der edle Drang verdorrt,
weil jeder leicht Aspekte findet,
begründet oder unbegründet,
teils anrüchig, teils ehrenvoll,
warum er´s lieber lassen soll.
Sobald es dann zum Handeln geht,
ist´s leider, leider schon zu spät.
---- Der andre äußert Lebenszeichen,
Haltlosigkeit und Ohnmacht weichen.
Mit einem Ruck setzt er sich grade.
Die Predigt ist zu Ende, schade.
Was der Herr Pfarrer dem, der sündigt,
nachdrücklich einschärft und verkündigt:
Gott will ermuntern, mahnen, strafen,
besonders ihn, er hat´s verschlafen.
---- Jedoch was geistlich ist zerronnen,
das hat er körperlich gewonnen.
Versehn mit neu geschenkter Stärke
geht er von dannen und zu Werke.
Wenn ihn zu Hause jemand fragt:
„Was hat der Pfarrer denn gesagt?“,
dann ist er keineswegs verlegen.
„Um Sünde ging´s. Er war dagegen,“
womit er ohne viel Bombast
das Wichtigste zusammenfasst.
---- Es macht ihm Mühe zu verstehn,
dass andre nicht zur Kirche gehn.

Silesio

Informationen zum Gedicht: Kirchenschlaf

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13.09.2023
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Christoph Hartlieb) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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