in Auflösung
Ein Gedicht von
Marie Mehrfeld
inmitten ihrer Hinter-
lassenschaft steht er und
betrachtet mit melancholischer
Andacht das chaotische Innenleben
ihrer barocken Vitrine, diese einst
nicht zu berührenden heiligen
Schätze hinter stets ver-
schlossener Glastüre,
die Daguerreotypie des
Urahnen, sorgsam vor Licht
geschützt, die Vasensammlung
aus drei Jahrhunderten, die zierlichen
Tässchen und Löffelchen des Biedermeier,
den alten Puppenherd mit Geschirr, die drei
wertvollen Babypuppen mit zarten Porzellange-
sichtern und Stempeln am Hinterkopf, das rote Woll-
knäuel, Nadeln durch gesteckt, so, als wäre es eben aus
der Hand gelegt, ihre Sammlung von Nägeln und Schrau-
ben, geordnet, als wären sie ein Wert für sich, der klei-
ne Hammer, gelb umwickelt, viereckige helle Flec-
ken an nikotinbraunen Tapeten, da hingen sie,
ihre angeblich einzigartigen Bilder der Rom-
antik, zwei halbvolle Honiggläser in der
Speisekammer, der Vogelkäfig leer,
verstimmt verstummt das Klavier
im Salon, fünf Kaffeekannen sind zu
verschenken, deckellos, mit dem gekreuzten
Schwert gezeichnet, an wen, er will sie nicht, er kann
nicht, so unvorstellbar zerbrechlich sind sie, passen nicht in
sein vom Zeitgeist bestimmtes hastiges Leben, zu seinen Designer-
möbeln vom Feinsten und Teuersten, eine respektlose Staubschicht hat
sich über die Preziosen seiner Kindheit gelegt, er ist gerührt und hält
die Tränen nicht zurück, und alles liegt da so bloß gestellt und ver-
letzbar, so verloren und einsam ohne ihre erklärenden sanften
Worte, die Aura eines geliebten Menschen, die sich grade
auflöst, einfach so, und das eindringliche Bewusstsein,
dass nichts Bestand hat, auch er nicht, und es ist,
als höre er ein leises Summen, kommt ein
Vogel geflogen; nicht denken, nicht füh-
len, nicht jetzt; ausblenden; der
Sperrmüll kommt morgen:
die Zeit steht nicht still;
vielleicht aber heilt sie
meine Trauer, so hofft er
© M.M.
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