F. Die Sitzung der Philosophen

Ein Gedicht von Georg Babioch
Philosophen, Freiheitsphilosophen der Jahrhunderte, sind zusammengekommen, um über den neuerlichen Geschichtsverlauf zu diskutieren. Verständlicherweise
haben sie die jüngsten historischen Vorgänge sehr nachdenklich gestimmt, und so mancher von ihnen glaubt sich aufgerufen, eine neue Philosophie zu begründen, seine ehemalige zu überarbeiten und zu reformieren und fortzuentwickeln. Als erstes spricht Karl:

Verehrte Herrschaften, geehrte Philosophen,
In vielen Reimen und versreichen Strophen,
Haben wir den Menschen das Denken gelehrt;
So mancher hat sich bei anderen Philosophen beschwert,
Schien mit unserem Werk wenig zufrieden,
Und sagten und erzählten sich: Wie denn
Soll der Mensch zur Vernunft gelangen,
Wie sollen wir eine vernünftige Zukunft anfangen;
Darum haben wir uns heute hier zusammengefunden,
Um zu legen unsere Finger in des Menschen Wunden,
Um zu diskutieren über unsere althergebrachte Philosophien,
Verstümmeltund verkürzt von so manchen Bürokratien;
Gleichwohl sei daran erinnert,
Daß aus uns Philosophen Weisheit schimmert,
Daß die wissenschaftliche Erkenntnis der Freiheit die Wiege,
Ohne die der Mensch nie und nimmer zur höheren Freiheit aufstiege.
Der Reichtum der Gesellschaften ist die Wiege der entwickelten Natur,
Eine überaus natürliche gesellschaftliche Struktur,
Diese Reichtümer die kapitalistische Produktionsweise beherrschen,
Doch deren Produzenten versorgt mit Märschen
Und mit falschen Ideologien,
Die die Reichen gegen die Produzenten ausspiehen.
Dieser Reichtum erscheint als ungeheuere Warenansammlung heute,
Hiervon betroffen allerdings beileibe nicht alle Leute,
Die einzelne Ware als deren elementare Form
Der gesamten Gesellschaft ihre soziologische Tausch-
wertnorm.
Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware;
Doch würde ich heute den Menschen in ihr Zentrum stellen, bewahre,
Bewahre ihn vor der Herrschaft der Ware.
Der Arbeitsprozeß stellt sich, unabhängig von seiner
geschichtlichen Form, dar als Prozeß zwischen Mensch und Natur;
Heute erkenne ich, daß ich die entscheidenden Elemente
meiner neuen Theorie schon damals einfuhr.
Daß wir damals vom wirklichen Arbeitsprozeß nicht zu abstrahieren vermochten,
Bloß für eine neue Entwicklung der Abhängigkeit von der Natur fochten,
Soweit der Arbeitsprozeß ein gesellschaftlicher gewesen, der Arbeiter aller Funktionen vereinigte schon in der Manufaktur
Des akkumulativen Kapitals natürliche größere Profit-struktur;
Entriß der gesellschaftliche Mehrwert, welcher aus der
Arbeit geflossen
Und zuhauf hat sich Arbeiterschweiß in solcherart Bächen ergossen.

Die historische Ausweitung und Vertiefung des Austausches entwickelt den in der Warennatur schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert,
Dies erkannten weder Danton, Robbesspierre und erst recht nicht Herbert,
Ansonsten sie die Gesetze der Warennatur der französischen Revolution einverleibt hätten,
Doch immerhin befreiten sie die politischen Gefangenen der Bastille von ihren Zellen und Ketten,
Ohne die große Industrie war dies auch nicht zu erkennen,
Solange Landwirtschaft und Handwerk im historisch vorherrschenden Rennen.

Der Gebrauchswert der Ware bestimmt sich im Gebrauch der Sache,
Über diesen Satz halte ich heute noch wache;
Ihr Wert ist den Gesetzen der Zeitökonomie unterworfen,
Die Gesetze der Zeitökonomie menschlich produktiver Arbeit sind von der Ware, und insbesondere ihrem Tauschwerte nicht zu trennen,
Auch diese Aussage wird bald jeder von ihnen erkennen;
Jedenfalls sind die Gesetze der Zeitökonomie die Gesetze unserer individuellen Handlungen schlechthin,
Unserer psychologischen Struktur entsprechend wie unseres freiheitlichen Sinn,
Und darum, meine Herren, rate ich ihnen heute,
Wenn wir auf der ganzen Welt sehr rasch gelangen möchten unter friedliche und freiheitliche Leute
Und also ablassen möchten von unmenschlich gesellschaftlicher Arbeitskraftbeute,
Müssen wir neue Gesetze unserer Zeitökonomien erkennen,
Um recht bald und umgehend in unser Schicksal der absoluten Freiheit zu rennen.

Vladimir:
Werte und verehrte Philosophen, lieber Karl:
Zu meiner Zeit untersuchte ich im Gefängnis die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in unserem weiten Rußland,
Zu jener Zeit stand unser Land noch an feudaler Zarenwand;
Ich hatte vor mir Bezirk für Bezirk und seine vielen
ländlich strukturierten bäuerlichen Produktionszahlen;
Längst noch existierten nicht sozialistische oder bürgerlich demokratische Wahlen,
Und ich errechnete in meinem damalig einfältigen frei-
heitlichen Geiste,
Was der künftige russische Mensch sich an Entwicklung und Freiheit leiste;
Und ich sah in mir den Glanz der Morgenröte der Revolution,
Einer künftigen stolzen Nation,
Wie von Dostojewskij in einer großen Rede vorhergesagt,
Der russische Mensch in seiner Freiheit den gesell-schaftlichen Werdegang überragt.

Karl ergreift erneut das Wort:
Lieber Freund, ich danke dir aus vollem Herzen,
Ich weiß, du möchtest mit menschlicher Hoffnung und freien Willen nicht scherzen;
Ich weiß, wieviel wir dir, Vladimir, zu verdanken haben,
Daß russische Menschen längst nicht mehr am Hunger-tuche darben;
Sondern als sowjetische Menschen neue historische Freiheiten erwarben,
Daß sie nicht mehr im zaristischen Joch als Zug- und Ackerpferde verstarben;
Doch denke ich an schwierige heutige Zeiten,
Wer hat ihnen gesagt, die Menschen zu verleiten;
Mein Wort von der Diktatur des Proletariats falsch zu verstehen,
Freie Gedanken zu knebeln, Hoffnungen zu verwehen,
Belogen, betrogen, Worte verwandelt
Und dabei mit Teufel und Hölle verhandelt.
Doch ach, was sehe ich, hinweg mit dir, du teuflische Drecksnatur,
Du hast sie alle verführt, du unmenschliche Mörder-statur.
Freiheit ist ohne Gulag und ohne KZ ...

Karl hat gerade einen schnauzbärtigen die Türe gewiesen. Betrübt und betroffen verläßt die ange-sprochene Person den Saal der Freiheitsphilosophen der Jahrhunderte. Karl fährt fort:

So müssen wir gelegentlich mit der Peitsche dazwischen-
schlagen,
Daß unsere Peitschenpeiniger es künftig nicht mehr wagen,
Von unseren eigentlichen Aufgaben abzulenken,
Um die Freiheit nicht zuletzt auch dem schwarzen Manne zu schenken.
Die Dikatur des Proletariats aber ist eine Aufgabe gewesen, die an die Geschichte gestellt,
Zu ihr jedoch haben sich Mord und Terror gesellt;
Ihr voraus geht das Ende der Klassengesellschaft,
Kein Wort von Diktatur einer neuen gesellschaftlichen Herrschaft,
Des Menschen über menschliches Los,
Des Menschen über den Menschen bloß.
Das Wort von der Diktatur des Proletariats kommt gänzlich gleich der absoluten Diktatur der Freiheit,
Idee von der absoluten Freiheit des Menschen,
Dies möchte ich mir für künftig und für immer und ewig wünschen.

Karl setzt sich wieder und überläßt Immanuel das Wort:

Ich, meine Herren, heiße Immanuel Kant,
Die Philosophie lebte stets mit dem Rücken zur Wand,
Teils als weise und rüde Wissenschaft,
Aufzuzeigen, was der Mensch an Freiheit schafft;
Ich selber, Zeit meines Lebens, beschäftigte mich mit Räumen und Zeiten
Und wob und übte mein Denken in großzügigen Weltall-weiten,
Der Kritik der reinen Vernunft,
Unter der Menschheit eine nur sehr kleine Zunft;
Und dennoch hatte ich die Natur in ihrer Gänze nicht begriffen,
Und warum? - Weil Herren stets unsere Freiheit angriffen.

Ich also heiße Immanuel Kant,
Stets schaue ich umher im weiten Land,
Und sehe es nicht, ich spüre es wohl,
Es riecht so verderblich nach Alkohol,
Wie es einst die Rothäute umgenietet hat,
Fetisch an Freiheit satt, statt freie Tat;
Ich sage es ganz klipp und klar,
Wie es immer gewesen war:
Mit Absicht tuen sie ihre Staaten runieren,
Um Todesengel in der Welt zu eruieren.
Ist es ihnen selbst und sehr persönlich wiederfahren,
Daß sie frei von allen prunkenen Sachen und herrlich vielen Arbeitswaren;
Sie selbst sich mehrmals um die Erde schälten,
Sie beließen uns im falschen Glauben, daß wir sie noch
wählten;
Mit ihrer Presse und ihren sogenannten freiheitlichen Sendern,
Reisen sie in der Welt herum, in allen Ländern,
Um alle Völker zu verarschen, um den Gedanken der
Freiheit aus der Welt zu vertreiben,
Um sich den Ben, den Ben und den Ben einzuverleiben,
Um ihre Gemüter an dem Tod von hunderttausenden Opfern zu reiben,
Und warum? - Um allein an der Macht, an der Macht zu bleiben.

Wir lassen uns nicht von ihren Katastrophen benebeln,
Mit welchen sie unsere geschundenen Geister knebeln;
Sie arschen und arschen und arschen nur,
Jede leblose, tote und lebende Statur;
Längst hätten wir sie alle retten müssen
Nun werden wir sie alle wachküssen
Müssen, und ob uns dieses gelingen wird?
Ich glaube es kaum, da der Tod in uns weiterstiert.
Ihr laßt euch verarschen, wo es nur geht,
Zieht das Geschwätz ihrer Presse vor, wo ein Sender nur steht;
Um euch selber in das Grabmahl zu schicken,
Ihr getraut euch nicht einmal, euch umzublicken,
Lassen sie euch wie Hampelmänner durch die Geschichte
gleiten,
Um euch statt zur Freiheit, bloß zur Katastrophe zu verleiten,
Derer sie sehr viele in ihre Nachrichten setzen,
Und warum? - Um zu hetzen, meine Herren, um zu hetzen!
Mit einem lieblichen "Hallo" auf den Lippen, auf dem Rücken,
Reißen sie hunderttausende Menschen in tausend Stücken.
Und dies macht Spaß!?
Unterlasse es, Mensch, unterlaß!
Karl, hast du diese Brut hochgezogen,
Ich glaube nicht: Du hast den Arbeiter nicht belogen;
Sie alle sind wie unter einem Joche,
Und schauen und sehen zu Woche für Woche,
Wie es alle und uns Philosphen verarscht,
Ja, meine Herren, bloß noch verarscht.

Nach einem anhaltenden Beifall und vielen nachdenklichen Gesichtern bei den Freiheitsphilosphen
der Jahrhunderte erhob sich Georg Wilhelm Friedrich, um folgende kurze Worte zu sprechen:

"Das reine Selbsterkennen, im absoluten Anderssein, meine Herren, dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft, oder des Wissens im allge-
einen. Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite das Selbstbewußtsein. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkt reiche, ihn in ihm
denselben aufzuzeigen. Sein Recht gründet sich auf seine absolute Selbständigkeit, die es in jeder Gestalt seines Wissens zu besitzen weiß."

So also sprach und schrieb ich einstmals,
Mal laut und vehement,
Mal trefflich melodiös,
Ganz sanft und wieder leis,
Über die Aufgaben und das Recht der Wissenschaft in ihrer natürlichen historischen Selbstbedeutung;
Nichts von alledem, was heute vorhanden, dennoch lauschten wir dem Äther
Der Zeiten: dem Heute, dem Gestern, dem Morgen, dem Später,
Der zeitlichen Erdumlaufbahnen;
Dennoch konnten wir sagen: wir ahnen
Die Bahnen unserer Zukunft voraus,
Wissen können wir aber erst heute, was gestern gewesen - Für mich keinen Applaus!?
Doch benötigen wir eine selbständige Wissenschaft,
Die gebiert, was morgen gelten soll ...

Als letzter Redner der Freiheitsphilosophen erhob sich Jean-Paul, der Jüngste unter ihnen, und sprach folgende Worte:

"Dem Denken der Gegenwart ist ein beträchtlicher Schritt nach vorwärts gelungen, indem es das Seiende auf die Reihe derjenigen Erscheinigungen zurückführte,
die von ihm Kunde geben. Man beabsichtigt, dadurch eine gewisse Zahl von Dualismen zu beseitigen, die der Philosophie Verlegenheit bereiteten, um sie durch das monistisch aufgefaßte Phänomen zu ersetzen."

Nun, meine Herren, laßt uns die Gläser erheben auf gutes Gelingen,
Unsere Körper nach überbaulichem und Freiheits-philosophien auszuwringen;
Dies ist um so wichtiger, da längst nicht alle Probleme gelöst,
Weil die Philosophie heute im Tiefschlaf vor sich hindöst;
Weil nach wie vor der Pfaffe spricht von Sünde,
Um einzufahren seine reichlichen Pfründe,
Und wegen der Sünde seine moralische Macht begründe,
Begründet die Pfründe auf Sünde im Süden,
Und im Norden und im Westen und im Osten;
Wir Freiheitsphilosophen werden nicht rasten, nicht rosten;
Die Herren dieser Welt lassen Millionen verhungern,
Weil sie so gerne in ihren Schlössern herumlungern.
Wir werden die Welt einzig der Vernunft aufteilen,
Und immerzu auf dem Richterstuhl stehen und weilen.
Denn die Wissenschaft ist die Basis der menschlichen Erkenntnis fürwahr,
Und der Erkenntnis der Freiheit, wie es immer war.

Zum Abschluß der Sitzung der Freiheitsphilosophen der Jahrhunderte singt Heinrich, der Barde:

Im düsteren Auge keine Träne,
Wir schauen das Unrecht, das ich erwähne.
Wir lassen uns nicht von den Herren verkohlen,
Die Ungerechtigkeiten soll der Satan in sein Reich heimholen.

Wir kämpfen und kämpfen!

Auch Deutschland ist wieder eine eine Nation,
Im Osten der Sozialisten, eine friedliche Revolution;
Wir alle haben gewartet und an sie geglaubt,
Niemand hat uns unserer Hoffnung beraubt.

Denn wir kämpfen und kämpfen!

Wir werden aufmerksam die Vorgänge besehen,
Auf welcher Verfassung wir eigentlich stehen,
Und jeden zu unrecht gefällten Baum bewachen,
So manche schieben sich ganze Wälder in den Rachen.

Doch wir kämpfen und kämpfen!

Wir werden nicht weichen, wir werden nicht ruhen,
Wir werden leeren ihre Goldschatztruhen,
Und den Reichtum der Welt auf alle verteilen,
Um fortan im Garten Eden zu verweilen.

Denn wir kämpfen und kämpfen!

Wir achten sehr auf des Herren Beuten,
Während seinem Beuten die Glocken läuten;
Der Herr und der Pfaffe in einem Verein,
Fährt allein in Gottes Himmel ein.

Doch wir kämpfen und kämpfen!

Wir sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne,
Warum ich auch dies hier noch mal erwähne,
Weil die Arbeit unser einziges Sein,
Aufbewahrt in einem gesellschaftlich-menschlichen Schrein,

Wir kämpfen und kämpfen!

Wir schauen die Bilder in eueren Sendern,
Ausgestrahlt in allen Herren Ländern;
Wir sind empört und daher fluchen,
Wie sehr wir nach Vergrabenen schauen und suchen.

Doch wir kämpfen und kämpfen!

Im düstern Auge keine Träne,
Warum auch dies noch mal erwähne,
Wir werden die Allmacht bald schon stürzen,
Und diesen Sturz mit Zimt und Muskat bald würzen.

Denn wir kämpfen und kämpfen!

Informationen zum Gedicht: F. Die Sitzung der Philosophen

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-
30.07.2012
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