Ein Reiter in den Zwölften
Ein Gedicht von
Jürgen Wagner
Die Müllerin, sie sah gut aus,
doch ihren Nachbarn war's ein Graus
Als Hex' war sie im Dorf verschrien,
war viel zu frei, wie's ihnen schien
Hing Wäsche in den Zwölften auf,
der ruhigen Zeit im Jahreslauf
Der Jäger holt dich, warnte man
Sie lachte nur und sprach: na dann!
Am Abend die Geschicht' begann
Es hob ein starkes Wehen an
Ihr war's, als ob man sie berühr'
Da trat ein Reiter in die Tür,
ganz rüstig und mit weißem Bart
'Willst mitreiten?' hat er gefragt
Der Müllerin war angst und bang,
zum Glück, sie zauderte nicht lang,
sprach klare Worte, holt' ihr Kleid
Der Jäger war schon marschbereit
Da riss der Sturm ihr 's aus der Hand
Und weht' das trockene Gewand
dem Reiter grade vor die Füss',
was nichts Gutes ihr verhieß
'So willst du mitreiten', fragte er
Sie drang in ihn und flehte sehr:
'Hab Haus und Hof und Mann und Knecht,
es geht uns gut, wir sind nicht schlecht'
Der Fremde hob die Hand nach ihr
'Oh nein', schrie sie, 'lass mich doch hier,
ich trag ein Kind in meinem Bauch!'
Denn auch bei IHM ist es so Brauch,
Rücksicht zu nehmen auf die Frau,
und sei das Leben noch so rau
Im Kind fängt es von vorne an
Da hält man inne, selbst als Mann
So sank die Hand langsam herab,
berührte ihre Brust ganz knapp
Der Reiter ging, ihr wurde weh
Das blieb ihr lange Zeit, oh je
Doch auch im neuen Jahreslauf
hing sie stets Wäsche draußen auf!
Die 12 Tage zwischen dem Sonnen- und dem Mondjahr, die sog. 'Rauhnächte', galten früher als heilige Ruhezeit. Da war Odin, der 'wilde Jäger', mit seinem Heer verstorbener Seelen in den Naturgewalten unterwegs. Wer z.B. in dieser Zeit draußen Wäsche aufhing, gab, so glaubte man, dem Gott des Totenreiches auch Macht über sich.
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