Du verstehst mich nicht.

Ein Gedicht von Michelle K. Schlüter
Sei still, meine liebe Zunge,
denn du weißt, dass sie die Sprache,
welche du sprichst, nicht verstehen können.

Sie hören nicht die lieblichen Klänge, welche du von dir gibst,
wenn du vergeblich versuchst die Worte, im Inneren deines Kopfes,
mit ihnen zu teilen.

Sei still, meine liebe Zunge,
oder sie werden dich mir herausreißen.

Hört auf zu sehen, meine lieben Augen,
denn ihr wisst, dass sie für das blind sind,
was ihr in der Welt sehen könnt.

Sie laufen durch die Dunkelheit, die Augen geschlossen,
können nicht sehen, was ihr der Seele zeigt,
damit diese sich selbst den Weg zu erleuchten vermag.

Hört auf zu sehen, meine lieben Augen,
oder sie werden mir das Augenlicht nehmen.

Bleibt stehen, meine lieben Beine,
denn ihr wisst, dass sie verboten haben diese Wege zu beschreiten,
da sie nicht verstehen können, wohin sie führen.

Sie haben nicht das Vertrauen in euch, dass ihr sie dorthin tragen werdet,
sie verstehen nicht, dass man Wege nicht kennen muss,
um sie zu laufen.

Bleibt stehen, meine lieben Beine,
oder sie werden uns die Knochen brechen.

Greift nicht nach ihnen, meine lieben Hände,
denn sie wissen nicht, wie es ist, einander zu halten,
da vor ihren eigenen Fingern sie sich scheuen.

Sie fürchten sich vor der Nähe, kennen keine lieblichen Berührungen,
denn sie selbst geben nicht, sie nehmen nur,
weshalb sollte jemand anders es ihnen nicht gleich tun?

Greift nicht nach ihnen, meine lieben Hände,
denn sie werden euch fesseln.

Sehne dich nicht nach ihnen, meine liebe Seele,
denn sie glauben nicht an deine Existenz, unter ihnen würdest du leiden.
Es ist besser alleine zu sein.

Und wenn sie wüssten dass es dich gäbe, so würden sie sich vor dir fürchten,
denn du sprichst eine Sprache die niemand anders spricht, du siehst Dinge die niemand anders sieht,
du gehst die Wege vor denen es ihnen graut und sehnst dich nach Zärtlichkeiten.

Sehne dich nicht nach ihnen, meine liebe Seele,
denn sie würden dich mir nehmen.

Hör auf zu schreien, meine liebe Zunge!
Hört auf alles zu sehen, meine lieben Augen!
Hört auf zu rennen, meine lieben Beine!
Hört auf sie zu zerquetschen, meine lieben Hände!
Höre auf zu suchen, meine liebe Seele!

Hör auf! Hör auf! Hör auf!

Ich verstehe dich nicht.

Informationen zum Gedicht: Du verstehst mich nicht.

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05.12.2019
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Michelle K. Schlüter) für private und kommerzielle Zwecke frei verwendet werden.
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