Denn der Wind kann nicht lesen ...
Ein Gedicht von
Annelie Kelch
Denn der Wind kann nicht lesen ...
Was ist schon dabei, dass der Wind nicht lesen kann,
singt oder pfeift er doch, sobald er erwacht:
sanfte Lieder im Sommer, den er liebt wie einen Bruder,
und zärtlich wie ein Sonnenstrahl kühlt er unsere Haut
und das Gefieder der Vögel.
Im Herbst pfeift der Meister behänder Schatten Arien in Moll,
bläst seine Backen auf, brüllt, dass ein Löwe im Schlaf
von seinesgleichen träumt, zischt gleich Schwärmen von Mauerseglern ums Häusereck und durch die Schluchten der Straßen, rüttelt der Bäume
erschöpftes Geäst und was da fällt, ist verloren und kehrt niemals wieder.
Solange der Wind ums Haus steigt, ist niemand einsam.
Wirbelwind liegt im Bettchen, lauscht dem Geheul im Blattwerk
der Eiben, hofft, dass der kleine Häwelmann schnell vorankommt im Sturmgebraus.
Was ist schon dabei, dass Wirbelwind noch nicht lesen kann.
Sie lernt es bald - und wer weiß, der Wind vielleicht eines Tages auch.
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