Dein Gesicht
Mädel sag, was mach ich bloß,
ich werde dein Gesicht nicht los.
Wochenlang, wenn früh ich eilte,
ich dir gegenüber weilte.
Stieg ich in die U-Bahn ein,
sah ich dich, so frisch und fein.
Dein Gesicht, im Tablet versteckt,
habe ich stets sofort entdeckt.
Den Göttern sei Lob und Dank,
dass du bisher niemals krank.
Jeder Tag, den ich zur Arbeit fuhr
wurde so zu einer Wege Kur.
Die Augen blau unter den Lidern,
sah ich dich nie den Blick erwidern.
Du hämmertest stets auf die Tasten,
als müsstest du sehr lange fasten.
Ich sah nur deine zarten Finger,
Kunstnagel verlängerte Dinger.
Fahrgäste gingen rein und raus,
da tauschten sich Gerüche aus.
Deine kleine zierliche Nase
schnupperte dann wie ein Hase.
Dabei verzog sich dein Grübchen
als wärest du ein freches Bübchen.
Dein Mund war wie ein Speicherbote,
er murmelte zwischen den Zähnen Worte.
Ich versuchte, von den Lippen zu lesen,
doch ist es bisher vergebens gewesen.
Sicher formten deine grauen Zellen
im Gehirn romantische Stellen.
Von Liebe, Sehnsucht und Begehren
glaubte manchmal ich zu hören.
Ehrlichkeit, Treue und Glauben
vermutete ich unter poetischen Hauben,
sogar Wüste, Staub und heiße Erde
samt einer großen Schäfchenherde.
Doch heute wurde ich erschreckt,
ich habe dein Arbeitsergebnis entdeckt.
Ich war zur Beerdigung eines Alten
und du hast die Grabrede gehalten.
17.11.2015 © Wolf-Rüdiger Guthmann
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