Das letzte Blatt am Baum
Ein Gedicht von
Greta Hennen
Das letzte Blatt am Baum
Das letzte Blatt will sich nicht lösen,
hat jede Mahnung überhört.
Es stellt sich so, als tät es dösen.
Das hat den Baum schon oft gestört.
Nun wird er langsam ungeduldig,
dass es zum Geh'n noch nicht bereit.
Er brummt den Zweig an: „Du bist schuldig!“
Der meint, es brauche halt noch Zeit.
Einst glänzte es in grünen Farben.
Nun zog der Saft aus seinen Adern.
Soll's für den Rest der Zeit nun darben?
Will schon mit seinem Schicksal hadern.
Das Blatt hält sich am Zweiglein fest
und baut nur noch auf Kohäsion.
Es hofft, dass man es jetzt noch lässt,
doch plagen es die Zweifel schon.
Die Anhangskraft ging schon verloren.
Es ruft:„Es ist noch nicht soweit!“
Doch bleibt es auch nicht ungeschoren,
und seinen Brüdern tut's nicht leid!
Hat sich um sie auch nicht bemüht,
sah sie doch nacheinander gehen.
Jetzt, da sein Leben auch verblüht,
hat's mit Bedauern das gesehen.
Ist es für alles jetzt zu spät?
Der Zweig lässt los, ermahnt vom Baum,
ruft noch, dass es nicht anders geht.
Erwacht es endlich:„Aus der Traum!“
Im Traum, so schön von alten Zeiten,
kehrt in den Frühling es zurück,
sieht über sich die Wölkchen gleiten.
Ist nun vorbei das ganze Glück?
Es öffnet müde seine Augen
und denkt: "Ich muss vernünftig sein,
was soll's Verweilen denn noch taugen?"
Den Lauf der Zeit sieht's endlich ein.
Es meint, als es am Boden liegt:
„So wie es ist, so muss es sein.“
Ein Hund, der um die Ecke biegt,
hebt zur Bestätigung sein Bein.
© Greta Hennen
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