Das Hemd des Glücklichen

Ein Gedicht von Christoph Hartlieb
….Ein kranker König gab bekannt,
die Krone solle dem zufallen,
durch welchen er Gesundheit fand.
Minister, Oberste, Vasallen
und die gesamte Hierarchie
erschienen, um zu überlegen.
Doch keiner wusste, was und wie.
Verwirrung herrschte allerwegen.
….Ein Weiser schliesslich brach den Bann:
Sucht einen Menschen, welcher glücklich.
Zieht dessen Hemd dem König an,
und er gesundet augenblicklich.
….Sendboten suchten weit im Land,
um einen Glücklichen zu finden.
Doch keiner einen solchen fand,
und alle Hoffnung schien zu schwinden.
Die Reichen waren häufig krank
und deshalb ziemlich unzufrieden.
Der hatte mit dem Nachbarn Zank,
der war von seiner Frau geschieden.
Und wer gesund war, der war arm.
Wer arm war, hatte nichts zu essen.
Dem Klugen fehlte es an Charme,
wer Charm besass, war pflichtvergessen.
Der eine fühlte sich zu alt,
den andern ärgete die Steuer,
der dritte war klein von Gestalt,
dem vierten abgebrannt die Scheuer.
Den Leuten ging es selten schlecht,
was sie im Grunde alle wussten.
Nur dies und jenes war nicht recht,
weshalb sie dauernd klagen mussten.
….Die Suche ihren Fortgang nahm,
doch jede Spur verlief im Sande,
bis zufällig ein Bote kam
zu einer Hütte auf dem Lande.
Durch´s Fenster eine Stimme drang,
und was er hörte, ihn entzückte.
Dies suchte er schon wochenlang,
weshalb er gleich zum König schickte.
Wie herrlich, ich bin wieder satt.
Mein Tagewerk ist abgeschlossen.
Ein solches Glück nicht jeder hat.
Gottlob für das, was ich genossen.
….Die Abgeordneten, die dann
neugierig vor dem Glückspilz standen,
sahn sich erschreckt und staunend an:
Ein Hemd war bei ihm nicht vorhanden.
(nach L. Tolstoi)

Silesio

Informationen zum Gedicht: Das Hemd des Glücklichen

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07.01.2023
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Christoph Hartlieb) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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