Ballade von Norna-Gest
Ein Gedicht von
Jürgen Wagner
Das Kind lag in der Wiege,
zwei Kerzen brannten still
Drei Nornen war’n gerufen,
es war des Vater’s Will‘
Zwei Seherinnen sprachen:
"Glück künden wir dem Kind!"
"Ein großer Mann soll’s werden,
das sei ihm so bestimmt!"
Die jüngste stand daneben,
man hat sie nicht gefragt,
stieß sie sogar vom Stuhle
Da hat sie was gesagt:
"So lang wie diese Kerze
hier brennt, so lange leb!
Dies Haus ist nicht so gütig,
dass man es hoch erheb!"
Die älteste der Nornen
erschrak bei diesem Wort
Sie nahm behend die Kerze
und löschte sie sofort
und gab sie seiner Mutter
S i e sollte sie verwahr’n
"Erst an dem Todestage
zünd‘ man sie wieder an!"
Gest wurd ein großer Sänger,
ein kluger, starker Mann
Er focht an Sigurd’s Seite -
nie trat der Tod heran
Er ging zum Hof des Königs
Mit seiner Harfe Klang
erfreute er die Leute,
zudem, wenn er noch sang!
Er ließ sich schließlich taufen,
der König wollt‘ es so
Gest wurd' zu einem Christen,
obzwar nicht mehr so froh
"Wie lang will Er denn leben?"
fragt ihn der König an
"Bei Gott, nur noch ganz wenig -
ich lebe schon s o lang!"
Er nahm aus seiner Harfe
die Kerze ruhig heraus
Versteckt in ihrem Rahmen
war sie tagein tagaus
"Wie alt ist Er geworden?"
"Oh, mehr denn hundert Jahr!
Nun ist es Zeit zu gehen,
ich hab' gelebt, fürwahr!"
Das Licht wurd' angezündet,
der Priester rasch bestellt
Der gab ihm Gottes Segen -
sein Schicksal war erfüllt
Anm.: Nornen waren Seherinnen, Gest bedeutet nichts anderes als 'Gast'. Die "Geschichte von Norna-Gest" ist eine kurze isländische Sage aus der Zeit um 1300. Ein Fremder namens Gest erscheint am Hofe von König Olaf Tryggvason in Trondheim, Norwegen 998 n. Chr. Er ist alt und doch überraschend stark und verblüfft die Gefolgsleute des Königs durch seine Fähigkeiten im Harfenspiel und im Erzählen von Geschichten. Der Fremde, befragt, wie er so viel über längst vergangene Zeiten wissen kann, enthüllt, dass er auch der Nornen-Gest heißt - und dies war seine Geschichte.
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