Angekommen (Eine Kurzerzählung)

Ein Gedicht von Ralph Bruse
Wie eine Blume aus Eis stand sie da. Der Wind hob ihr Haar,
das Seidenkleid; ihren Blick. Die Brandung donnerte rau-
schend. Berauschte auch sie. Winzige Boote und wuchtige
Frachter, kreuzten den endlosen Horizont. Der Himmel riss
auf. Letzte graue Wolkenfetzen segelten dahin.

Sie hatte keine Wünsche mehr. Hier nicht. Alles Vergangene,
das sie wie verschlafene Geister umfing, war urplötzlich ver-
schwunden. Alle ängstigenden Bilder ihres Lebens verblass-
ten. Nur hier, am großen, breiten Ufer, lag alles gestochen
scharf vor ihr - und nichts dahinter: anstürmende Wellen,
schreiende Möwen, der einzige Windsurfer, weit draußen.
Und das Boot, in einiger Entfernung. Es kam näher. Darin
saß ein älterer Mann. Er winkte ihr zu. Sie winkte auch ihm.
Er kam noch näher; hielt direkt auf Ilona zu. Sie wusste nicht,
was sie tun sollte: gehen, oder hierbleiben. Wie die Blume
aus Eis stand sie nur da - unfähig, sich merklich zu rühren.
Der Mann zog sein Boot an Land. Stieg aus. Lächelte zu-
nächst unsicher und umarmte sie dann. Ilona stand noch im-
mer wie angewurzelt am gleichen Fleck; ließ seine Umar-
mung jedoch auch gewollt zu.
Plötzlich, nachdem er ihr lange genug ins Gesicht sah, sagte
er: > Entschuldigen Sie, ich hab Sie wohl mit jemandem ver-
wechselt. Ich dachte, Sie wären...<
> Ja...?, < half sie ihm. > Das ist auch mir schon öfter passiert.
Ein geliebter Mensch, den wir irgendwo in anderen zu sehen
glauben. <
> Verzeihen Sie, < wiederholte er verlegen und will sich ab-
wenden. Sie lächelt nachsichtig; zupft am Ärmel seines Hemds.
> Wenn ich noch länger hier stehe, wird mir bestimmt Ähnli-
ches, wie Ihnen erscheinen...Ist es die Möglichkeit, daß wir an
manchen Orten schlichtweg alle und alles vergessen? Merkwür-
dig, was das Gefühl von völligem Freisein, hier draußen, mit
uns anstellt. <
Er nickt zustimmend, zieht das kleine Paddelboot in tieferes
Wasser - will ablegen; winkt; deutet an, sie könne mit einstei-
gen.
Das tat sie, ohne länger darüber nachzudenken. Rührte sich end-
lich von der Stelle weg, wo sie seit...Wie lange eigentlich schon
stand?
Dann fuhren sie hinaus, mittenhinein in Himmel und Horizont,
die tiefblau angestrichen waren.

Am Ufer zurück blieb ein Maler, der die Szenerie die ganze Zeit
über auf Leinwand bannte. Er wird ihr einziger Zeuge sein. Wird
sich daran erinnern, daß niemand zurück, an Land, kam. Daß ge-
gen Abend die Ruder des Bootes an Land gespült wurden. Und
daß der Wind von irgendwo ihr Lachen zu ihm wehte.
Sein gemaltes Werk wird er ´´Ankommen´´ nennen. Es wird nie
öffentlich zu sehen sein. Irgendwann später schrieb er dazu:

Es gibt Begebenheiten und Fügungen zwischen Himmel und
Erde, die allein zwei Menschen vorbehalten bleiben sollten.
Kein Bild kann je den Zauber einfangen, der einst jenem wun-
dersamen Begegnen innewohnte. Der geheime Zauber gehört
den Beiden, die in stürmische See hinausfuhren. Und in Stille
irgendwo, dort draußen, ankamen.


(c) Ralph Bruse

Informationen zum Gedicht: Angekommen (Eine Kurzerzählung)

592 mal gelesen
1
13.06.2023
Das Gedicht darf nur mit einer Erlaubnis des Autoren kopiert oder veröffentlicht werden. Jetzt Anfrage stellen.
Anzeige