1. Mai, 2. Mai, einerlei

Ein Gedicht von Sunyata
Vor Kurzem nahm auch ich mir vor, statt zu reden, mehr zu hören
– ein Meineid, den Kanzlerkandidaten wie auch Dichter öfters schwören.
In Zeiten digitaler Nähe hört man nur vor allen Dingen
Gerade jene Stimmen, die wohlig wiegen und einem ähnlich klingen.
Ja wer denn weiß zu Facebookzeiten, was ein and’rer wirklich sagt,
Wenn man sich niemals aus der eignen, kleinen Filterbubble wagt?
So habe ich vor Kurzem brav gelauscht, was jene stets skandieren
Die mir so scheinen, als würden sie ihren Verstand komplett verlieren.

Doch alles, was ich hörte war:


„Nach Dekaden grenzenlosen Mästens darf man wohl erwarten,
Dass es auch noch mindestens für tausend Jahre weitergeht!
Es beleidigt uns’re Würde, Göttlichkeit und Majestät
Sollte weiter Fett wegschmelzen unter uns’ren Wohlstandsschwarten!
Kaum ein Mensch hat je vollbracht, was wir in unsrer Weisheit taten:
Heldenhaft geboren wurden wir wie Maden tief im Speck;
Nie war Luxus uns zu dekadent, konsumierten wir doch jeden Dreck!
Fett gefressen haben wir uns am Unglück and’rer Staaten.

Warum klatscht denn keiner für uns?!

Warum soll ich bloß verzichten, wenn die Nachbarn weiterkaufen?
Was kümmert mich das Sterben dieser ach-so-schönen Welt,
Wenn mir Bali (gerade günstig) doch so unglaublich gefällt?
Lieber freie Fahrt und welke Wälder als zu Fuß zu laufen!
Dort im Osten geht’s doch weiter, egal was sich ändert hier im Westen.
Mag sein, die Zukunft uns’rer Kinder hat vielleicht bald schlechte Karten –
Unser Tod wird hoffentlich ja nicht bis dahin auf uns warten!
Warum also soll ich nicht die Welt noch ein wenig mehr verpesten?

Warum protestiert denn keiner für uns?!

Feiern wollen wir erneut, auch schuften und das Geld vermehren,
Wie ein Feuer den Wald, so wollen wir das Leben rasch verzehren.
Tanzen wollen wir vergnüglich auf den Gräbern unserer Omas,
Opfern wollen wir den Göttern, denn es macht uns so viel Spaß,
Sterben wollt ihr heut noch nicht, doch wir, wir wollen so nicht leben.
Seid doch bitte so gut, für unser Glück das Eure herzugeben!
Tanzen ist ein Menschenrecht, denn ohne Tanzen lebt sich’s schlecht,
Ohne Orgien und Gelage ist das Leben eine Plage!

Warum singt denn keiner für uns?!

Gebt uns endlich, was wir wollen, ansonsten ist es doch nur fair,
Falls wir uns vorstellen, dass die Welt unheimlich böse wär’.
Ihr alle müsst verschworen sein und auch mit Satan im Bunde stehen,
Damit wir die Helden werden, als die wir uns alle sehen
In uns’ren Träumen seid ihr schuldig, doch der Henker, der sind wir.
Justitias Schwert liegt in unserer Hand allein, wir schlachten euch wie ein Tier!
Ihr nennt uns schlecht, doch wir dagegen machen euch dafür noch schlechter,
Denn im Recht sind wir allein und werden deshalb immer rechter.

Warum kämpft denn keiner für uns?!“

Das ist letztlich, was diese hasserfüllten Leute wirklich sagen
Auch wenn sie klugerweise selten diese harten Worte wagen.
Verzweifelt lauschte ich dem wilden Krawattenkakerlakenkrawall,
Versank in heißen, blubbernd-beißenden Boomberbrabbleredeschwall.
Von allen Seiten prasselt dieses Gerede ständig auf uns ein:
Es sucht nach frischen Opfern, die willens sind, sein neuer Wirt zu sein
Wir hören weg und lächeln müde, sagen nur, sie würden spinnen
Während diese Worte schon mit jedem Tag an Macht gewinnen

Warum schauen wir schweigend zu?

Bis auf Che-Guevara-Fans ist die Strategie zu solchen Sachen
Zu lauschen, lachen oder auch mal einen Shitstorm zu entfachen.
Wir gehen auch zu FFF und BLM, statt Kommentarspalten zuzumüllen,
Um nette Selfies zu schießen oder uns die Seele freizubrüllen.
Das höchste der Gefühle dieser Meinungsmühle kommt am 1. Mai
Da schreien wir ja alles polizisten- oder nazifrei
Damit am nächsten Morgen sich mal wieder nichts ändert auf Erden
Und Menschen leiden und sterben, während uns’re Pole wärmer werden.

Warum denken wir das ist genug?

Die Absolution beschert das hastig hingeschmierte Transparent
So zeigen wir der Insta-Welt: Ich hab den Trend nicht ganz verpennt!
Und nächstes Jahr sind wir auf einer Demo zu ’nem anderen Thema –
Serielle Monogamie der Entrüstung, das ist unser Schema.
Wer bitte setzt sich denn auch heute immer noch für Syrer ein,
Und morgen werden Klima, Floyd und Hanau schon vergessen sein.
Die Nazis verschwinden nicht an einem Abend, das Problem lebt fort,
Denn um die Welt zu bessern braucht es mehr als Selfies und ein Wort.

Warum vergessen wir so schnell?

Krawalle und Straßenschlachten gibt’s bei uns fast nur am 1. Mai,
Doch das Kämpfen ist nach einer roten Nacht noch nicht vorbei.
Es gibt nur einen Tag für Leute, die laut reden und Feuer legen
Doch Hundert mehr für jene voller Eifer, die etwas bewegen.
Es reicht nicht mehr nur neunmalklug zu labern, witzeln, kurz zu lachen.
Es ist die Zeit vorüber, in der wir auf den Straßen blutig fechten.
Heute wie im Rest des Jahres ist das Los aller Gerechten,
Sich anzunehmen allem Schlechten und statt reden auch zu machen.

Die Meinungswaffenhändler kontrollieren schon fast unsere Leben, da sie an jene ihre Güter geben, die nach Einfluss streben.
Aktivismustourismus allein wird sie nicht besiegen, denn ihre Macht wächst während unsere Follower uns in Sicherheit wiegen.
Likes und Lautsprecher, Shitstorms und Sit-ins, Kommentarspaltenkreuzzüge und Richtungsdebatten haben zwar ihren Sinn –
Doch statt großer Worte am 1. Mai bringen kleine Taten am 2. mehr Gewinn.

Informationen zum Gedicht: 1. Mai, 2. Mai, einerlei

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20.04.2022
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Sunyata) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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