Das letzte Hemd - prosaische Gedanken zum Jahreswechsel

Ein Gedicht von Marie Mehrfeld
Von mir an mich zum neuen Jahr. Trenn dich

… von der kitschigen Blumenvase, die du schon seit
Jahrzehnten mit Abscheu betrachtest, lass sie fallen,
Tante Erna lebt nicht mehr.

… von schweren Gedanken, schreib sie auf einen
Zettel, zerreiß ihn, wirf die Schnipsel in die Luft,
der Wind wirbelt sie durcheinander, sie kehren
leichter zu dir zurück.

… von Erinnerungen an eine verflossene Freundin,
sie ziehen dich in einen Strudel, der dir schadet,
finde dich damit ab, sie ist raus aus deinem Leben,
es geht auch ohne sie.

… von der Illusion, dass dein wahres Glück noch
kommt, das bringt Enttäuschung mit sich, schau nur
auf diesen Moment, auf das Jetzt und Hier, genieße es.

… von der Vorstellung, dass du nicht genug leistest
im Leben, du tust das Deine, schau es dir liebevoll
an und freu dich daran.

…. von allen Klamotten, die du seit Jahren nicht
mehr getragen hast, stopf sie in einen Sack und
verschenke sie an eine wohltätige Kleidersammlung.

… von sonstigem überflüssigen Krempel, den du
im Lauf der Jahrzehnte im Keller gehortet hast,
das wird dich sehr erleichtern.

… von dem Drang, immer stark sein zu
müssen, schalte einen Gang zurück und fang’
an, deine Fehler zu mögen.

… von Rückzugsgedanken jeder Art, geh im
Gegenteil mehr aus dir heraus und auf andere
Menschen zu, pflege Familien- und Freundesbanden.

… von deiner Gewohnheit, lieber zu schweigen,
wenn Unwahrheiten verbreitet werden, rede laut
und deutlich dagegen an, dann kannst du dir
besser im Spiegel begegnen.

… vom Grübeln über deine angebliche Schwäche,
raff dich auf, geh in’s Konzert heute Abend,
hinterher wirst du dich bärenstark fühlen.

… vor allem vom Geizen mit Geld und Gefühlen,
beides ist miteinander verbunden, bedenke den
weisen Spruch: Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Oder, besser, Psalm 90 Vers 12: Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.

(Unter Hemd verstand man früher ein langes Untergewand, das auch Hauskleid war. Die Kleider, die man auf der Straße trug, wurden zuhause „ausgezogen bis auf das Hemd“. Dieses Hemd ohne Taschen war also auch das Symbol für die letzten Dinge, die ein Mensch besitzt und dafür, dass er nichts ins Grab mitnehmen kann. Die Moral des alten heute noch verwendeten Sprichwortes lautet also, sei nicht geizig, leere deine Taschen, bevor du stirbst.)

© M.M.

Informationen zum Gedicht: Das letzte Hemd - prosaische Gedanken zum Jahreswechsel

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01.01.2022
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Marie Mehrfeld) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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