Lauf der Zeiten

Ein Gedicht von Christoph Hartlieb
….Der Mensch, soeben erst geboren,
noch Eierschalen hinter`n Ohren,
versteht vom Lebenssinn nicht viel;
auch fehlt es ihm an Zeitgefühl.
Es gelten seine Interessen
allein dem Saufen und dem Fressen.
Ob morgens, mittags, mitternachts,
er quäkt und quält und kräht. Was macht`s,
dass er die Eltern übermächtigt,
die sowieso schon übernächtigt,
so dass ihr Zeitgefüge prompt
von Grund auf durcheinanderkommt!
….Nimmt er allmählich zu an Jahren,
wird zwar gewitzter sein Gebaren,
doch hält er es für selbstverständlich:
Des Lebens Dauer währt unendlich.
Was morgen sein wird, übermorgen,
macht ihm nicht die geringsten Sorgen.
Mit voller Brust und stolzgeschwellter
frohlockt er, wird er ein Jahr älter.
Die Zeit gleicht einem Riesenmeer:
Er schöpft und schöpft, es wird nie leer.
….Sobald er etwas reifer wird,
bemerkt er, dass er darin irrt.
Sein Tun und Lassen ist komplett
hineingepresst ins Zeitkorsett:
Minuten, Stunden, Tage, Wochen,
die ihn beinahe unterjochen.
Geht er zum Abendessen aus,
zum Gottesdienst, ins Krankenhaus,
zum Schwimmbad oder Tete-a-tete,
fragt er zunächst einmal: Wie spät?
Fängt irgendetwas für ihn an,
stellt er bestimmt die Frage: Wann?
Genauso häufig fragt er bange:
Wie lange dauert das, wie lange?
….Terminkalender sowie Uhren
vollbringen offenbar Dressuren
von Menschen, die beharrlich glauben,
nichts könne ihre Freiheit rauben.
….Der Fahrplan für die Eisenbahn
und für den Flugverkehr ein Plan
und ungezählte andre Pläne,-
Du weißt schon, diese oder jene,-
die führen dazu, dass er ahnt,
der Mensch sei seinerseits verplant.
….Die Uhr, die er am Armband trägt,
auch die, die auf dem Kirchturm schlägt,
der Wecker morgens früh am Tage,
im Radio die Zeitansage,
sie machen deutlich selbst dem Kind:
Die Zeit ist flüchtig, sie verrinnt.
Zwar hört man oft in froher Runde:
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde,
doch was sich zeigt als Freudenquell,
verflüchtigt sich besonders schnell,
wogegen das, was uns versauert,
meist ausgesprochen lange dauert.
….Es lichtet sich des Haupts Behaarung,
wir sammeln Fotos und Erfahrung,
Gerümpel, Kummerspeck und Gold,
auch Niederlagen, ungewollt.
Wir würden gerne alles geben,
bekämen wir: Mehr Zeit zum Leben.
Doch die verrinnt in einer Tour
wie Sand in einer Eieruhr.
Erst wehren wir uns noch und schmollen,
wenn wir nicht kriegen, was wir wollen.
Doch später, müde der Intrigen,
da wollen wir nur, was wir kriegen.
Das Haben wächst, zugleich das Soll.
Mehr ängstlich als erwartungsvoll
schaun wir, was uns die Zukunft bringt,
ob uns ein weit`res Jahr gelingt.
Es gibt etwas, das uns bedroht
und voller Schrecken scheint, der Tod,
obwohl er, sagen wir es platt,
bestimmt auch guten Seiten hat:
….Ob wir im dunklen Grabe modern,
ob im Verbrennungsofen lodern,
kein Ticken einer Uhr stört mehr,
kein Zeitverlust macht uns Beschwer,
kein Wechselspiel von Tag und Nacht,
kein Auftrag: Morgen um halb acht.
Wir dürfen jeden Buss verpassen,
den Wecker einfach klingeln lassen
und, statt um sechs Uhr aufzustehn,
uns auf die andre Seite drehn.
Wir haben eine Ewigkeit
zum Ausruhn und Verschnaufen Zeit.
Silesio

Informationen zum Gedicht: Lauf der Zeiten

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29.12.2022
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Christoph Hartlieb) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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