Wie überwintern … ?
Ein Gedicht von
Annelie Kelch
Neulich – in der kleinen Kapelle …
Ich saß in der drittletzten Reihe
und blickte zum Fenster hinauf;
es lag neben einem mit Tannenzweigen
geschmückten Altar.
Vom Himmel fiel Schnee,
der erste in diesem Jahr,
und ich malte mir aus, wie die
frierende Erde ihn mit Freuden
empfangen und zu halten versuchte –
wie auch ich damals versuchte, dich,
mein Lieb, zu halten, aber du bist wohl
für immer von mir gegangen.
Vor mir saßen zwei alte Männer;
Einer der beiden hustete zum
Gotterbarmen und stellte die Frage:
„Wie überwintern? –
Wie überwintern, wenn in den Herzen
der Menschen Eisblumen blühen und kein
Platz in den Herbergen – nirgends ein Ort,
darüber ein Stern leuchtet?
Die Rosen sind alle längst fort …
An ihrer Stelle trat eisiges Schweigen,
das lauter ist als die Stille: Der Lärm unserer Zeit.“
„Durch Stillesein werde ich stark“,
sprach der zweite. „Ich kehre bei mir selbst ein
und fühle mich nicht allein – was können
mir Menschen noch antun ...“
„Dann lass uns gehen, sobald es Nacht wird
und Berge versetzen“, sagte der erste
zwischen zwei Hustenkrämpfen.
„Vorher jedoch, mein alter Freund,
könnten wir noch ein wenig schlafen,
hier ist es wärmer als draußen.“
Ich zog leise mein Portemonnaie aus
der Jackentasche und legte das Geld,
das sich darin befand, auf den Sitz neben jenem,
darauf ich gesessen und den Atem angehalten hatte.
Ich war aufgeregt; meine Händen zitterten
leicht. Selten wird man – zufällig –
Zeuge guter Gespräche.
Die Geldstücke – sie klimperten
lauter als in einem Opferstock.
Die beiden Alten wandten sich um
und schauten mich fragend an. Ich sah
in zerfurchte, aber kluge Gesichter mit
Charme.
„Für Hustensaft und Proviant“, stammelte ich,
und lief zum Ausgang der Kapelle.
Vor der schweren hölzernen Tür lag
ein kleiner Zettel. Ich bückte mich,
hob ihn auf und las:
„Geh schnell hinaus auf die Straßen
und Gassen der Stadt und führe die Armen,
Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein.
Lukas 14,21“