Die alte Frau und das Meer ...
Ein Gedicht von
Annelie Kelch
Die Nacht hebt ihren schweren dunklen Rock:
Das Meer blitzt auf und freudig blähen sich
am Landesteg neben den Kuttern die Segel:
Der Geist des Windes erwacht ...
Kühl noch die Bläue des Himmels über
Der roten Welle des Morgens …
Schon fliehen die Fische vor den Netzen.
Die alte Frau tritt aus der Einsamkeit ihrer Hütte.
Sie schultert ihr Herz … das Aug ...
erfasst die karge Beute der nächtlichen Flut:
Treibholz von Zedern, die dunkle Feder eines
Kormorans, Dosen, über Schiffsgeländer
geflogen; Lügen, im Tang verstrickt.
Die knotigen Finger ineinandergeschlungen,
Ein zögerndes Nicken: ihr Morgengruß
Zu den Fischern hinüber. – Erinnerungen
An einen Orkan ... jene Nacht, als das
Bett neben ihr leer blieb und sie am nächsten
Morgen auf die Scherben ihres Glücks stieß ...
Brach liegend im verwüsteten Schilfgürtel.
„Drei Schäkel am Spill, hiev Anker!":
Sein letzter Befehl an die Mannschaft,
Bevor er an Bord ging und nicht mehr heimkam.
Sein letzter Befehl ... sein letzter Blick
Zur Fischerhütte, davor sie stand und ihm
Lächelnd nachsah. – Nur hier kann sie atmen,
Leben, glauben, hoffen, lieben, leiden, sterben …
nur hier, in der Nähe seines Seemannsgrabs –
aus Kreuz und Anker und Herz.