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Gedichte über das Leben - Seite 3115


Ein Tag - ein Leben

für meinen Vater zum 80. Geburtstag 1996


Ganz leis kommt der Morgen
schimmert verstohlen über den Horizont.
Zögernd beginnen die Vögel ihren Gesang
im taufeuchtem Baum.

Ein neues Leben will auf die Welt,
strampelt, stößt und quält sich frei.
Und sein erster kläglicher Schrei
übertönt ohne Mühe das Vogelkonzert.

Langsam steht Mutter Sonne auf,
beginnt ihren ost – westlichen Weg,
blinzelt über Büsche, zwinkert durch Bäume
und trinkt den Nebel fort.

Der neue Erdenbürger schläft und trinkt.
Er schläft und isst dann seinen Brei.
Er krabbelt, fällt hin, steht auf und läuft.
Die ersten Worte kann nur die Mutter verstehn.

Die Natur zieht ihren schwarzen Mantel aus,
wird angemalt mit leuchtenden Farben
und umarmt mit wärmenden Strahlen.
Bruder Wind lächelt noch im Traum.

Heute noch fröhlich spielendes Glück,
liebeumsorgte, barfüßige Freude.
Doch schon bald schleicht der strenge Schatten
der Pflicht heran und flüstert grinsend: zur Schule.

Nun ist auch Bruder Wind erwacht,
er blinzelt, reckt sich und gähnt,
hat aus seinem Traum ein Wolkenschäfchen mitgebracht
und setzt es vor die Sonne.

Fleißige Arbeit der Hände bringt Segen,
der Lehrherr sagt’s und bringt es ihm bei.
Dann heißt’s von der Mutter Abschied nehmen,
es zieht ihn ein kleines Stück in die Ferne.

Plötzlich springen fern am Horizont
dunkle braune Wolkenberge hervor,
greifen um sich mit wabernden Krallen
und fressen die zitternde Sonne auf.

Welche Schrecken muss der Mensch nun leben,
sieht das Grauen groß und unbekannt.
Er wird still. Er sieht sich um.
Viele Fragen. Keine Antwort. Keiner weiß warum.

Donner und Blitz, Hagel und Sturm
haben die Erde völlig zernichtet,
blutroter Schlamm in zuckenden Flammen –
doch horch: Ein Vogel singt leise von Hoffnung.

Süchtig nach wieder friedvollem Sein
flieht er heim zu Frau und Kind.
Tränenstrahlend umarmt er das Leben
und danket stumm für sein Glück.

Die finsteren Weltenmächte haben endlich
die Sonne wieder ausgespuckt.
Noch schaut sie zitternd, furchtsam und bleich,
doch schon durchbrechen vorwitzige Strahlen den
Schleier der Angst.

Weiter zieht das Fließband aller Tage
und rumpelt knirschend: Arbeit, Arbeit.
Unermüdet schafft er, ohne Rast und Ruh.
Die Jahre vergehen. Das Haar wird schon grau.

Mutter Sonne lacht nun wieder
hoch vom blauen Firmament,
schaut auf den Tanz der Wolkenkinder,
Bruder Wind singt leis ein Lied dazu.

Was er mit seiner Hand geschaffen
überschaut er froh mit stolzem Blick.
Die kleinen Schätze seines Strebens
lächeln ihn an und auch seine Lieben.

Langsam wird der Tag nun müde,
schläfrig summt der Dämmerwind.
Blumen schließen ihre Kelche,
die Vögel verkriechen sich in ihrem Nest.

Des Schaffens Bürde drückt nicht mehr,
nun ist es Zeit, sich auszuruhn.
Mag auch der Seele Haus gebrechen,
man möchte doch dem Augenblick Dauer verleihn.

Mutter Sonne versinkt träumend im Nebelduft,
hat ihre Bahn vollendet.
Zum Abschied funkelt das Abendrot,
es zwinkern die Sterne, und Vater Mond wacht.

Genieß den Abend, freue Dich,
des Tages Wärme dauert noch an.
Leb mit der Welt in Frieden,
das Land der Träume ist noch fern.
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