Zeitung am Morgen
Ein Gedicht von
Friedrich Graf
Du pfeifst vergnügt am frühen Morgen
auf die latent vorhandenen Sorgen.
Gesund sind Frau und Kind und Tierchen,
es läuft prima wie am Schnürchen.
Noch nicht tangiert von Alltagslasten,
holst du die Zeitung aus dem Kasten.
Dein froher Sinn wird jäh besiegt,
je mehr dein Aug die Lettern pflügt.
Ganz vorne steht in großen Zeilen:
„Unser Wohlstand wird enteilen.
Der Ölpreis steigt, die Rente sinkt!
Das ganze Land verfault und stinkt!
Trotz Finanz- und Wirtschaftskrisen,
die Banker sich mit Boni`s süßen,
Europa ist im freien Fall,
Konkurs und Pleiten überall.
Bei körperlichen Alltagsqualen
musst Medizin du selbst bezahlen.
Die Ärzte fliehen aus dem Land,
der Mangel wird zum Flächenbrand!
Keiner hat Vertrauen mehr!
Alle Gläser sind längst leer!
Jede zweite Ehe scheitert!
Nur Spekulanten sind erheitert.“
Auch beim Blättern weiter hinten
gibt’s nichts Gutes aufzufinden.
„Beim Bauern Kunz vom Nachbarort
liefen nachts die Schweine fort!
Ein blinder Mann aus Ebertshagen
hat aus Versehn die Frau erschlagen!
Ein Jogger eine Leiche fand –
der Todesgrund ist unbekannt!“
Nach soviel negativen Zeilen
willst du dem Horrortrip enteilen,
und schlägst erschreckt, erregt und stumm
die Seiten schnell nach hinten um.
Prompt landest du im Sportgeschehen
und musst gleich diese Nachricht sehen:
„Ganz Deutschland trauert uniso,
denn Bayern München ging k.o.“
Du kannst dich lesend nicht mehr schonen
und landest tief in Depressionen,
vor allem wenn du weiter siehst
wer plötzlich jüngst verstorben ist.
Erfüllt mit bitterbösem Grausen
lässt du das Schwarzgedruckte sausen.
Es gibt kein Licht mehr auf der Welt,
nur Tod und Not und Elend zählt!
Du willst dich nicht mehr überlasten
befasst dich geistig schon mit Fasten,
willst unbeschränkt enthaltsam sein…
… und stellst das Zeitungslesen ein.
Doch schon am nächsten Morgen wieder
zwingt dich erwachte Neugier nieder:
Beschwingt holst du das Tagblatt `rein
und lässt den guten Vorsatz sein.
Dann pfeifst du mit gespitzten Lippen
ein flottes Lied beim Kaffee nippen;
fast zärtlich, wie den lieben Sohn,
streichst du das Blatt in Position.
Entspannt tust du die Beine strecken,
noch kann dich keine Nachricht schrecken.
Dann liest du langsam - - - und begreifst:
Die Welt bleibt schlecht, auch wenn du pfeifst!
(© Friedrich Graf)
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