Mein Laster
Ein Gedicht von
Sylvia Seifert
Spätestens am Neujahrsmorgen,
wenn alle Sorgen kurzzeitig ertrunken sind und
maximale Schaffenskräfte alte Ziele wieder auf den Sockel stellen,
spätestens dann, kriecht es in sein Loch zurück,
kräftig im Körper, spitz in der Zunge,
dreht‘s sich noch mal um und grüßt die Welt,
mit hoffnungsvollem Blick und starker Lunge.
Wie letztes Jahr zur gleichen Zeit, verlässt es meine Welt, satt und prächtig,
so wie ich’s genährt, und verweilt zunächst in Dunkelheit.
Eine kleine Weile nur, vielleicht auch mehr, wer weiß das schon.
Gebettet auf dem Kissen der Verlockung, bereit
hinauszuspringen mit dem Blick voll Hohn,
wenn ich’s rufe.
Im ersten Monat des neuen Jahres übermütig und voller Tatendrang
gestalte ich mein neues Leben ohne es.
Ich surfe auf dem Brett der besseren Menschen, lass mich dafür bewundern.
Klopfe mir selbst auf die Schulter und vergesse kurzzeitig, das da was lauert.
Es dauert
so ungefähr bis März.
Mein Laster im Gegenzug kennt diese Gewohnheit nur zu gut,
und tut’s mir nicht gleich mit dem Verdrängen.
Wissend verdaut‘s die letzten Übermengen vom vorigen Jahr.
Es schläft mit offenen Augen.
Sehr schnell muss es sein, um frühzeitig anzudocken,
sollten mich lasterhafte Dinge locken
und ich nicht stark genug sein.
Prompt im Mai hat’s dann Erfolg.
Die Schwachstelle sofort erkannt,
kommt es angerannt und lässt sich fallen
in den Tiegel der Verdammnis.
Ab jetzt wird es wieder fett und krallt mit aller Kraft.
Bis hier hin hab ich es geschafft,
mal wieder, mich zu belügen.
Doch ab jetzt hat etwas anderes die Macht und es wird siegen.
Denn der Sinn eines Lasters ist, das alle es erkennen sollen,
zum einen das Extreme des Moments und
zum Anderen die Beschwerrlichkeit der Dauer.
Deshalb gibt es alles, arbeitet hart und ist schlauer
als ich und mein Bemühen, ihm trotzdem noch den Garaus zu machen.
Es funktioniert aber nicht,
das stelle ich dann fest, im September.
Nun lasse ich mich fallen,
mit der Energie meiner Wegbegleiter,
die natürlich ebenfalls dieses Elend leben.
Und wieder mal stellen wir fest,
in der Gruppe lässt es sich leichter ertragen.
Doch an der Kehle sitzt der Kragen.
Und spätestens im Dezember wird es eng.
Denn mir fehlt die Luft zum Atmen,
und so entscheid ich mich in nur drei Tagen
dem Laster wieder einmal mehr Adieu zu sagen
und bahne ihm seinen Weg zum Schafott.
Denn es ist Neujahrsmorgen.
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