01:27

Ein Gedicht von Michelle K. Schlüter
Wie soll man der Welt zeigen wie es in einem drinnen aussieht, wenn man doch nicht die Geräusche des eigenen Herzens niederschreiben kann?
Ich versuche es, doch versage kläglich. Nur wer auch ein Herz hat kann verstehen wie es ist, es in der eigenen Brust stetig schlagen zu fühlen. Wie es die Hände zum zittern bringt und das Gesicht vor Aufregung rot anlaufen lässt. Wie es in deinem Kopf immer und immer wieder schlägt, immer lauter während die Wände um dich herum immer näher kommen zu scheinen.
Wie soll ich der Welt erklären wie groß der Schmerz doch ist in einem Hause ohne Zuhause zu sitzen, auf eine beschriebene Seite ohne Worte zu blicken und kleine schwarze Tasten in einer bestimmten Reihenfolge zu tippen, rhythmisch zum Takt meines Herzens und nur lesbar für jene, welche es im Takte ihres eigenen Herzens zu lesen wissen.
Und selbst jene Menschen werden nicht das Geräusch hören, dass ich höre.
Es ist nicht nur ein Schlagen, es sind Stimmen. Abertausende von Stimmen die in Gefühlen und Bildern sprechen, in Sprachen welche kein Mensch je zuvor gehört hat. Sie wollen reden, wollen kommunizieren, doch niemand wird sie jemals verstehen.
Die Wände kommen näher, immer näher. Meine Finger schmerzen vom Tippen, der Laptop auf meinen Waden fühlt sich heiß an, mein Herz schlägt weiter. Immer weiter, immer schneller.
Die Stimmen rufen, schreien. Sie möchten hinaus, möchten nicht länger eingesperrt sein aber ich schaffe es nicht. Ich kann sie nicht befreien.
Mein Herz droht zu platzen. Die Stimmen schlagen gegen die Wände der Herzkammern.
Würden die Wände mich zerdrücken oder würden die Stimmen mein Herz so schnell schlagen lassen bis es keine Energie mehr hat und aufgibt?
Ich möchte schreien, schreien wie die Stimmen in meinem Herzen. Und einschlagen auf die Wände um mich herum.
Ob mein Herz sich wohl auch um die Stimmen verengt?
Ich rutsche in meinem Bett weiter nach hinten, suche nach Halt, ziehe die Beine an den Körper heran. Die Wand in meinem Rücken ist kalt und rau. Es schmerzt. Ich schreie.

Blutflecken schmücken die Wand in meinem Rücken. Sie ist kalt und rau.
Ob das Universum versteht weshalb ich schreie?

Ich öffne das Fenster. Kalte Nachtluft schlägt mir ins Gesicht. Sie riecht rostig. Nach Blut. Die Sterne funkeln als wollten sie mir etwas in Morsecode mitteilen. Ich verstehe sie nicht. Es ist still. Dann, auf einmal ein dumpfer Schlag. Zerberstendes Glas. Mein Nachbar schreit.
Es ist nach Mitternacht. Lichter gehen in den Häusern um uns herum an. Menschen um uns herum schreien zurück. Unverständlich. Laut.

Mein Herz schlägt. Die Stimmen in ihm schreien. Mein Nachbar schreit. Menschen schreien. Die Sterne funkeln.

Ich schließe das Fenster wieder und tippe auf die Tasten meines viel zu heiß gewordenen Laptops. Eine unverstehliche Sprache. Eine Warnung poppt auf dem Screen auf. Ich ignoriere sie und schließe das Fenster. Meine Finger schmerzen, meine Knöchel sind blutverschmiert.

Wie soll man der Welt zeigen wie es in einem drinnen aussieht, wenn man doch nicht die Geräusche des eigenen Herzens niederschreiben kann?

Bumm-bumm. Bumm-bumm. Bumm-bumm.

Die Sterne funkeln. Der Himmel wird immer dunkler. Die Sterne funkeln.

Ich weiß nicht wie ich meinem Vermieter die Blutflecken auf der Wand erklären soll.

Informationen zum Gedicht: 01:27

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13.12.2019
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (Michelle K. Schlüter) für private und kommerzielle Zwecke frei verwendet werden.
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