Tischchen rücken
Ich war einst mal zu Besuch
bei der Tante mit dem Buch.
Die Tante war ein Fräulein pur,
das Buch sah man von außen nur.
Sie legt den Kunden Patiencen,
meist über ihre Liebeschancen.
Oder über den Kurs der Bank
entwicklungsmäßig 10 Jahre lang.
Sie drehte meine Handfläche nach oben,
um meine Lebenslinien zu loben.
Mir erklärte sie sofort ganz ungezügelt,
ich wäre sichtbar poetisch beflügelt.
Mit Politikern, die sonst großen Mund,
wühlte sie im verblichenen Kaffeegrund.
Bei einer Grünen das gründlich misslang,
weil die nur grüne Teemischung trank.
Sie lässt schon mal das Pendel kreisen,
um uns die Zukunft zu beweisen.
Wenn es gilt sich zu entscheiden,
wer denn der Vater ist von beiden.
Und als Höhepunkt der Sitzungstage
kommt die Buchstabenabfrage
mit den längst verblichenen Tanten,
die den Bankcode uns nicht nannten.
Die Tischdecke trug rings als Kreis
Zahlen und Buchstaben schwarz auf weiß.
Die Tante ließ langsam einen Zeiger drehen,
auf einem Zeichen blieb er stehen.
Oft war es nur ein J(Ja) oder N(Nein),
dem Geist fiel keine Antwort ein.
Doch gab es auch lange Sätze,
wirres Zeug, nur keine Schätze.
Hinter der vorgehaltenen Hand
sie dabei uns mal gestand,
von Moses das berüchtigte 7. Buch
wäre unserer Nachbarin Fluch.
Wir saßen einst in großer Runde
bei der Tante zur Mitternachtsstunde.
12-mal schlug laut der Regulator
das Licht flackerte, doch nicht zuvor.
Wir legten die Hände an des Tisches Rand,
bis jeder beiderseits des andern Finger fand.
Die Tante murmelte unverständliche Worte,
die gebräuchlich sind an diesem Orte.
Sie rief laut die Tante in der Gruft,
ein feines Ziehen geisterte durch die Luft.
Sie hob die Hand, das Tischchen schwebte
obwohl noch eines jeden Hand dran klebte.
Wir haben später das Heben des Tisches versucht
und über dessen Gewicht geflucht.
Als die Tante neulich lag im Sterben,
ließ ich mir das Geheimnis vererben.
Doch sie mich dringend bat,
erspare allen Deinen Verrat.
Die Hilfe, die ich dir dazu gab,
behütet man bis in das Grab.
15.08.2013 © Wolf-Rüdiger Guthmann