Ein Insekt
Was uns sticht, wenn man es neckt,
ist meist die Wespe, ein Insekt.
Den Honig aber, der uns schmeckt,
liefert die emsige Biene, ein Insekt.
Des Frühjahrs erste Blüten entdeckt
die dickliche Hummel, ein Insekt.
Arme und Beine uns leider oft befleckt,
die saugende Mücke, ein Insekt.
Aber mich hat im Flieder erschreckt,
die große Hornisse, ein Insekt.
In der Stadt sieht man sie kaum,
ihre Wohnung ist meist ein Baum.
Ein dicker Baum, der innen hohl,
gefällt dem Hornissenvolke wohl.
Bei uns ist es eine alte Birke,
die auf Hornissen anziehend wirke.
Denn als einst der Krieg zu Ende war,
pflanzten die Russen ein Birkenpaar.
So wurde traditionell Erinnerung geboten,
an die ferne Heimat der hier liegenden Toten.
Die Birken wuchsen über Asche und Leichen
und wollten bis in den Himmel reichen.
Doch Wind und Wetter, Regen und Trockenheit
verkürzten sichtbar ihre Wachstumszeit.
Eine Birke zerbrach vor Jahren im Sturm,
stand lange wie ein schlanker Turm.
Beim zweiten Baum wurden Äste gestutzt,
das haben anfangs die Vögel genutzt.
Sie schufen eine Höhle für das Nest
und pickten am morschen Baumkernrest.
Als die fertige Brut dann ausgeflogen,
ist das Königreich der Hornissen eingezogen.
An der Höhlendecke, wie die Fledermäuse,
errichteten sie ihr Staatsgehäuse.
Statt sich am süßen Nektar zu laben,
zerkauten sie Rinde für brutfähige Waben.
Diese Rinde, vom Flieder und ganz frisch,
holten sie über unserem Gartentisch.
Wir sahen, wie sie schälten Stück für Stück
und flogen schwerbeladen zurück.
Langsam und auf kürzesten Strecken,
keine Umwege zum Verstecken.
Sie wirken bedrohlich, nicht sehr niedlich,
sind dafür aber äußerst friedlich.
Hole ich Weintrauben an der Wand,
arbeitet langsam und ruhig meine Hand.
Nur nicht wild und hektisch eilen,
es lässt sich auch ganz friedlich teilen.
Hat man doch ängstliche Gewissensqualen,
Hornissen lieben ausgelegte Birnenschalen.
Wenn es dann Tier und Menschen schmeckt,
lobt die Hornisse, als ein befreundetes Insekt.
09.06.2017 © W.R.Guthmann