Wo ist meine Wut?
Ein Gedicht von
Lothar Schwalm
Manchmal, da frage ich mich,
wo meine Wut steckt.
Im Himmel?
In der Hölle?
Auf Erden?
In mir?
Ich habe genug Gründe,
um wütend zu sein.
Mein Vater hat mich gedemütigt
und meinen Körper
und meine Seele gequält,
verletzt, zerschunden,
wie kein anderer Mensch nach ihm.
Zahllose Menschen haben mich
beleidigt, ausgelacht, nachgeäfft,
mich wegen meiner Andersartigkeit
diskriminiert und ebenfalls verletzt
und tiefe Wunden gerissen.
Und ich?
Ich bin immer noch bereit,
alles zu entschuldigen,
zu verharmlosen, abzuwiegeln,
zu verzeihen, zu vergessen
mit meiner Intelligenz,
meinem Intellekt,
meiner Reflektionsfähigkeit,
meiner Gutmütigkeit
und Angepasstheit…
Wo ist meine Wut?
Ja, Du, Wut, wo bist Du?
Ich suche Dich und finde Dich nicht!
Such Dich – vergeblich!
Suche Dich wie ein kleines Kind.
Und ich weiß:
Du steckst in mir,
in meinem Körper,
ich muss Dich in mir suchen,
in dem kleinen verletzten Kind,
dem kleinen verletzten Lothar,
der all die Wut und den Zorn,
der ihn damals überflutete,
gut weggepackt hat,
weggepackt und versteckt hat,
damit diese Gefühle ja nie wieder
an die Oberfläche dringen,
sich ihren Weg bahnen,
jemanden zerstören.
Jetzt zerstören sie allerdings mich,
machen mich depressiv und krank,
bereiten mir Kopfschmerzen.
Wo ist meine Wut?
Die Wut, die mich überrollt,
übermannt hat, musste weg,
durfte nicht da sein,
und ich musste sie in
wilde und kranke Tics kanalisieren,
damit alle sagen konnten:
Der Junge ist krank und behindert,
anstatt sich fragen zu müssen:
Was macht ihn bloß so wütend?
Tarnung ist alles,
besonders für verbotene Gefühle!
Wo ist meine Wut?
Wo ist der kleine wütende Lothar
bloß geblieben?
Ich vermisse Dich.
Es macht mich traurig, zu sehen,
wie wenig Du auch heute noch
leben darfst,
nach all diesen Jahren.
Immer mehr…
ls140510