unglaubliche heilung
Ein Gedicht von
Lothar Schwalm
Vorspiel:
Vor etwa drei Jahren war ich bereit,
mich für einen Verein filmen zu lassen,
der von Betroffenen verschiedene Aussagen
zum Tourette-Syndrom haben wollte,
um diese auf seiner Homepage zu veröffentlichen,
und damit die Öffentlichkeit zu informieren.
Seither warte ich auf eine Zusage darüber,
bestimmte Sequenzen dieser Aufnahmen
auf meiner eigenen Seite veröffentlichen zu dürfen,
von denen sich der Verein klar distanziert hat,
und die er auf seiner eigenen Homepage
auch nicht zeigen wird, weil sie nicht die Meinung
des Vorstandes widerspiegeln.
Szenenwechsel:
Seit Wochen tun meine Knie weh,
eigentlich schon seit Monaten,
besonders das Linke,
seit Januar ist es sogar so schlimm,
dass ich nur noch unter Schmerzen
und mit deutlichem Humpeln laufen kann,
aber der Schmerz ist nicht neu,
eigentlich kenne ich diesen Schmerz
schon seit Herbst letzten Jahres.
Meine Ärztin meinte erst gar nichts
und schließlich, als ich nicht nachließ:
Verschleißerscheinungen,
wahrscheinlich altersbedingt. Und nun?
Abwarten und irgendwann erneut Schmerzen,
besonders links.
Erneuter Arztbesuch, Ratlosigkeit,
Überweisung an einen Orthopäden,
kurze, fünfminütige Untersuchung,
Ratlosigkeit, Überweisung an einen Radiologen,
MRT gemacht, Diagnose:
ein Riss im Innenmeniskus,
Rat des Orthopäden:
Ambulante Arthroskopie in Kollegenpraxis,
auf Deutsch: Knie-Operation bei Freunden.
Szenenwechsel:
Seit Anfang des Jahres beschäftige ich mich
mal wieder verstärkt mit meinem Tourette-Syndrom.
Richte auf meiner Homepage
eine eigene Unterseite ein.
Sie heißt: Mein Tourette.
Dort will ich meine Geschichte noch mal
gründlich aufarbeiten und ausführlich darstellen,
mit Kindheitsfotos und allem Pipapo.
Ich erzähle, warum es mein Tourette ist.
Dann: Meine Geschichte,
die Zusammenhänge zur erlebten sexuellen Gewalt
werden deutlich und so auch dargestellt.
Zu dieser Zeit darf ich das erste
von drei gewünschten Videos einstellen.
Ich bin glücklich:
Es ist zugleich das längste und wichtigste Video.
Die anderen beiden ziehen sich noch.
Zur gleichen Zeit werden die Schmerzen
im linken Knie schlimmer:
Laufen tut weh, Treppensteigen fällt schwer,
mal mehr, mal weniger.
Mitte April fahre ich für ein Wochenende
zu einem Seminar des Vereins.
Ich will wissen, ob ich die beiden
anderen Videos auch zeigen darf.
Der Vorstand signalisiert Bereitschaft
zur Zustimmung, will die Videos aber
noch mal kurz sichten.
Wieder warten.
Nach zwei weiteren Wochen
und vielen Argumenten
bekomme ich grünes Licht!
Endlich, ich atme auf!
Bin unendlich erleichtert.
Dabei wurden die Videos vor fast
drei Jahren gedreht.
Jetzt endlich kann ich sie nutzen!
Sie alle zeigen den Zusammenhang
zwischen meinem frühkindlichen
sexuellen Missbrauch und der
Entwicklung meines Tourette-Syndroms auf.
Für mich unendlich bedeutsam und wertvoll.
Seit Januar arbeite ich an dieser Rubrik
auf meiner Homepage.
Jetzt, Anfang Mai, habe ich sie fast fertiggestellt.
Nach schmerzhaften Anfängen im Herbst
haben die Schmerzen im Januar
ihren zweiten Schub bekommen.
Seit wenigen Tagen geht es mir
und meinem linken Knie erheblich besser.
Ein Zusammenhang? Und wie!
Mein Freund Eberhard hat mich neulich erst
darauf gebracht. Er ist Ergotherapeut
und sehr lebenserfahren,
ein Grübler und Denker, wie ich.
Er meinte:
Das Knie ist ein Körperteil,
der exemplarisch für die Sexualität
im Leben eines Menschen steht.
Jetzt, wo ich mich wieder einmal
mit meiner zerstörten Sexualität,
dem Angriff auf meine zentrale Lebensenergie
und deren Folgen auseinander setze,
ist es kein Wunder, dass ich noch mal
„in die Knie gehe“, anhalten, innehalten muss,
nicht mehr laufen kann.
Die erneute Auseinandersetzung
mit dem sexuellen Missbrauch
und der Unterbrechung meiner Lebensenergien
und meines Lebens- und Entwicklungsflusses,
die mit jedem tourette’schen Tic
und dem damit verbundenen Atemanhalten
einhergeht und diese symbolisiert,
führt wieder dazu, dass ich „in die Knie gehe“,
dieses Mal nicht seelisch, sondern körperlich.
Seit drei Jahren kämpfe ich darum,
diese Zusammenhänge in Form
von diesen drei Videos auf meiner Homepage
benennen und zeigen zu dürfen.
Diesen Zusammenhang anzuerkennen
und anzunehmen hat auch etwas mit Demut zu tun,
genauso, wie es bedeutet,
die Demütigung von damals
in Form des Missbrauchs
und die jahrelangen Demütigungen
in Form von Diskriminierungen
wegen des TS anzunehmen und zu erleben.
Demut als Geste, als Hingabe, als Annahme,
eine stille, eine stolze und bewusste Demut
als Annahme des eigenen Schicksals.
Und diese Demut hat noch einen weiteren,
niederknienden Aspekt:
Demut als Geste der Ehrfurcht gegenüber Gott,
der Anerkennung des Schicksals,
das er für mich bereit hält.
Und Gottesbilder sind immer auch Vaterbilder:
der Pater als Vater, das Vaterunser,
im Namen des Vaters, des Sohnes
und des Heiligen Geistes,
Gottvater selbst als die göttliche Vaterfigur.
Wenn ich durch meine Aufarbeitung
und Bewältigung des Geschehenen
in Form der Erweiterung meiner Homepage
und der Dokumentation dieser Zusammenhänge
zu einer Annahme und damit auch
einer Akzeptanz dieses Leides komme,
dann ist es kein Wunder,
dass mein Körper bei der Zuspitzung
dieser Auseinandersetzung um das Zeigendürfen
meiner wichtigen drei Videos
vorübergehend „in die Knie geht“,
und das eben im Bereich der Sexualität.
Ich habe einen Kampf geführt,
in dem es mir wieder einmal darum ging,
nicht mehr schweigen zu müssen (wie früher),
sondern alles sagen, alles benennen zu dürfen,
was mich, mein Denken und mein Fühlen angeht.
Nachdem ich das Ja für den zweiten Film bekam
und ursprünglich dachte,
der dritte Film sei auch genehmigt,
gab es noch einmal Bedenken.
Ich bekam wieder Angst
und prompt weitere Schmerzen:
Zusätzlich zu den Schmerzen im Knie
kamen Hüftschmerzen links
und ein Dauerkrampf in der linken Wade hinzu,
sodass ich überhaupt nicht mehr laufen konnte.
Ich habe mich wirklich gefragt,
was der Grund dafür ist,
dass ich nicht mehr laufen können soll.
Irgendetwas bewegt mich bis zum Stillstand.
Ich soll innehalten.
Nachdem ich mich mit dem dritten Film
ebenfalls durchsetzen konnte,
habe ich alle drei Filme hintereinander
auf meine Seite gestellt.
Das war vor ca. drei bis vier Tagen.
Und seit mir mein Freund Eberhard
vor drei Tagen einige dieser Zusammenhänge
bewusst und klar gemacht hat,
geht es nicht nur meinem linken Knie,
sondern meiner gesamten linken Seite
wesentlich besser:
Die Hüftschmerzen haben sich verzogen,
der Dauerkrampf in meiner linken Wade geht zurück,
und auch mein Knie macht große Fortschritte.
Mein Körper muss mir nicht mehr zeigen,
wo es weh tut, jetzt, wo ich mir
meinen Schmerz bewusst machen konnte.
Ich bin froh und glücklich über mein Leben,
mein Wissen, meine Freunde und mein Verständnis
von Körper, Seele und Geist:
Das ist eine unglaubliche Heilung!
ls07052012