Begegnung

Ein Gedicht von Lothar Schwalm
Du stehst vor mir, lieblich und zart, und Du schaust mich an.
So etwas Vollkommenes wie Dich habe ich noch nie gesehen.
Ich kann nichts sagen, nur wahrnehmen.
Du lächelst mich an.
Verlegen lächle ich zurück.
Ich betrachte und betrachte Dich.
Namen sind unwichtig. Nur wir zählen, wir beide.
Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen.
Das Blau des Himmels färbt sich orange, genau wie Dein Kleid, das eben noch so weiß und rein leuchtete – angeschienen durch die hellen, kräftigen Strahlen der Sonne, deren Glanz jetzt allmählich verlischt.
Die Palmen wiegen sich leicht im Wind, der jedes Mal leicht zu wehen beginnt, wenn der Tag schlafen geht.
Deine Augen leuchten orangefarben der untergehenden Sonne entgegen.
Der weiße Stoff ist das einzige, was Dich in der bewegten, warmen Luft umhüllt.
Und während Du mich noch immer liebevoll anlächelst, sehe ich, wie Dein zarter Körper noch zartere Konturen auf dem seidenen Kleid abzeichnet:
An den Schultern, den Brüsten, am Bauch und an den Hüften. Ein Luftstoß lässt den Stoff um Deine nackten Beine flattern.
Die goldene Kugel versinkt ganz langsam im ruhigen, gelbroten Wasser, als wolle das Meer sie verschlucken, um noch ruhiger zu werden.
Ich spüre –geblendet von Deinem Anblick– wie mir jemand meine Kleider auszieht und sie mit fortnimmt.
Es muss der Wind sein, der mir warm um die Beine streicht.
Ich habe nichts mehr an, und obwohl die Luft sich leicht bewegt, friere ich nicht.
Der leuchtend rote Ball wärmt mir mit seinen letzten Strahlen den Rücken, den Po und die Schenkel, bevor er gleich ertrinkt und die Dämmerung hereinbricht.
Ich fühle mich wohl und glaube, leise Musik zu hören. Vielleicht sind es auch nur die Kronen der Palmen, die sich mit ihren riesigen Blättern gegenseitig berühren und beschnuppern, wie junge Hunde.
Es ist eine liebliche Melodie, mit der uns der Wind umspült, so, wie das orangefarbene Wasser die Millionen kleiner Steinchen umspült, die am Strand liegen.
Ich schaue Dich wieder an und habe das Gefühl, Du bist noch schöner als eben.
Das Haar weht Dir um die nackten Schultern und in Deinen begehrenden Augen, in denen der glühende Feuerball gerade Abschied von diesem Tag nimmt, um sich im kühlen Wasser zu erholen, sehe ich, dass Du mich die ganze Zeit über forschend angeblickt hast, um mich besser kennen zu lernen.
Der Wind legt sich langsam, die Blätter hören auf, sich zu berühren, die Melodie verstummt, die Sonne ist untergetaucht, und schließlich wird auch das Meer ganz still.
Ruhe, Frieden, überall.
Wir schauen uns tief in die Augen, lächeln uns zärtlich an, Du lässt Dein seidenes Kleid leicht und geräuschlos von Deinen Schultern herab gleiten, und als es den warmen Sand bedeckt, nimmst Du mich bei der Hand, und wir gehen gemeinsam zufrieden und glücklich in die stille, schützende Dunkelheit des Abends hinein.


ls030987

Informationen zum Gedicht: Begegnung

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25.07.2011
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