Der ästhetische Zyklus / Eros und Thanatos
Ein Gedicht von
Jan Jendrejewski
1. Teil – Das Phänomen
Erst geht es aufwärts, dann bergab,
Erst hat man Kraft, dann macht man schlapp.
Anfangs wächst alles schön und prächtig,
Man fühlt sich stolz, vital und mächtig.
Aber irgendwann ist der Höhepunkt erreicht
Und der Aufstieg dann allmählich dem Abstieg weicht.
Überall ich dieses Phänomen erkenne,
Darum es den ästhetischen Zyklus nenne.
Ich frage mich: Sollte ich es sogar wagen,
Dies als eine Metaphysik anzusagen?
Es scheint wie ein Naturgesetz, dass alles einmal vergeht,
Und kein Zustand und keine Sache für alle Zeit besteht.
Ja, es scheint, dass sich alles einmal verändern muss,
Denn nur so bleiben Geist und Materie im Fluss.
Individuell, kulturell,
Historisch, kosmisch.
Die Schau soll immer weiter gehen.
Der Kreislauf wird sich weiter drehen,
Die Geschichte niemals stillstehen.
Es hilft kein Jammern und kein Flehen:
Was das Schicksal will, wird geschehen.
Katastrophen zum Plan des Schöpfergeists gehören.
Das viele Leid hat einen Grund
Und Schicksalsschläge sind gesund.
Ein Architekt muss erst sein altes Werk zerstören
Und es führt zu nichts, sich darüber zu empören.
Aber neue Werke werden entstehen
Und das große Schauspiel wird weitergehen.
Denn der Schöpfergeist mag keine Stille.
So wie die Welt ist, so ist sein Wille.
2. Teil – Überall erkenne ich…
Die Knospen im Sonnenschein aufgehen
Und sich die schönsten Farben zeigen
Und Düfte in die Lüfte steigen
Und Blüten im warmen Wind verwehen.
Es fallen Äpfel, Birnen, Feigen,
Und die Kronen schon wieder nackt stehen
Und bald im Wald die Vögel schweigen.
Die Wärme, die Farben und das Leben sind lange fort.
Findet man Kälte, Dunkelheit und Tod an diesem Ort.
Zwei Augenpaare haben sich gefunden,
Und die Liebe lässt die Herzen springen.
Das Schicksal hat das junge Glück verbunden,
Und schon bald im Dorf die Glocken klingen.
Es folgen Haus, ein Hund und Kind,
Doch irgendwann dreht sich der Wind.
Dann ist der Höhepunkt erreicht,
Die Liebe der Zerstörung weicht.
Allmählich sich der Liebestraum auflöst
Und Nüchternheit den Anderen entblößt.
Sehnte sich das Herz nach Zweisamkeit,
Will es jetzt zurück zur Einsamkeit.
Die einst Unzertrennbaren sich immer öfter meiden,
Und nicht wenige lassen sich schließlich sogar scheiden.
Aber nur wenige sind für die Einsamkeit gemacht,
Und bei vielen irgendwann wieder die Liebe erwacht.
Dann wird die Einsamkeit wieder verflucht,
Und ein neuer Partner wird sich gesucht.
Ein Luxusdampfer wird erst zur Legende,
Ist sein Höhepunkt ein tragisches Ende.
Der ganze Stolz, die Schönheit und die Macht,
Im kalten Schwarz gegen den Eisberg kracht.
Und der Riese in der eisigen Finsternis versinkt,
Und die Mehrheit der Besatzung ohne Hoffnung ertrinkt.
Es scheint, alles Große muss einmal vergehen.
Wer hoch steigt, der wird tief fallen
Und nicht selten hart aufprallen.
Alle Errungenschaften im Wind verwehen.
Dekadenz, Korruption, Kriege -
Auch die besten Staaten einmal befallen
Und auch die größten Nationen zerfallen.
Werden seltener die Siege
Und vorbei sind die Aufstiege.
Die goldenen Jahre sind vergessen.
Hinfort das Glück, der Stolz, der Mut.
Und vielen fehlt jetzt das Geld für Essen,
Während die Reichen sich die Finger lecken,
Und immer größer wird die Wut.
Oft hervor kommen jetzt große Führer,
Die im Volk frischen Kampfeswillen wecken.
Aber hütet euch vor jenen, die das Glück versprechen:
Viele sind talentierte Verführer,
Die dann oft die Gier ergreift,
Und ihre Versprechen brechen.
Und das Volk zu spät begreift,
Dass es dies alles schon einmal gab.
Die Soldaten in Reih und Glied salutieren,
Armeen in Nachbarländer einmarschieren.
Die Flaggen wehen stolz im Wind,
Die Hymne fröhlich singt das Kind.
Und die Masse ihrem Führer zuruft,
Bis dann die Zeit kommt und sie ihn verflucht.
Wenn des Feindes Maschinen am Himmel fliegen
Und die einst schönen Städte in Trümmern liegen.
Die Wissenschaft hat die Sonne in unsere Hände gelegt,
Und alles, was geboren und erbaut war, hat sie fort gefegt.
Eros ließ dem Kind eine schöne Sandburg bauen,
Doch Thanatos in ihm ließ ihm sein Werk zerhauen.
In einer Landschaft aus Ruinen und moosbedecktem Stein
Blüht in einem Lichtstrahl eine Blume für sich ganz allein.
So war es schon immer und so wird es auch für immer sein.