Oma, was ist eigentlich Einsamkeit?
Ein Gedicht von
Alexandra
Als ich neulich bei meiner Oma war, traf ich sie zusammengesunken und gedankenverloren auf der Couch sitzend an.
Ihre rechte Hand war ausgestreckt und streichelte die Stelle, auf der Opa immer gesessen hat.
Opa ist nun schon 13 Jahre tot.
Sie schaut mich an und mir ist, als ob ihre Blicke durch mich hindurchgehen.
Mit leiser Stimme und Tränen in den Augen spricht sie zu mir:
Ach Kind, die Einsamkeit bringt mich noch um.
Ich schrecke zusammen, setze mich zu ihr auf die Couch, nehme sie in den Arm und frage etwas unbeholfen:
So schlimm?
Und mehr mich als sie fragend, kommt aus meinem Mund:
Was ist eigentlich Einsamkeit?
Warum tut sie nur so weh?
Sie schaut mich an und lächelt ein wenig.
Schön, dass du fragst, sagt sie nun.
Ich wollte den Zettel eigentlich schon zerreißen, aber nun kann ich ihn dir ja doch mal zum Lesen geben.
Sie steht auf, holt aus der obersten Schublade ihrer Kommode einen kleinen zusammengefalteten Zettel und gibt ihn mir.
Ich falte ihn auseinander und lese:
Sich verzweifelt in grausam schmerzender Leere nach anderen suchend befinden, um dann doch nur ungewollt nach und nach wie ein Ertrinkender im Ozean der eigenen Tränen auf den Boden zu sinken, aber auch dort den Kampf gegen die Einsamkeit noch nicht aufgegeben und mit letzter Kraft die Suche fortsetzen, ohne zu wissen, dass es keine reale Chance gibt, in der Einsamkeit auf irgendjemanden zu treffen.
Stattdessen sich irgendwann unbemerkt mehr und mehr verlieren, bis man nicht mehr zu sich selbst findet.
Geschockt lasse ich den Zettel in meinen Schoß sinken und schaue meine Oma an.
Nach einer Weile kann ich nur die Frage: So schlimm? an sie richten.
Ja, mein Kind, so schlimm, antwortet sie.
Wir sitzen noch eine ganze Zeit schweigend nebeneinander.
Dann sage ich: Oma, schön, dass du noch da bist.
Ihre Augen verlieren den leeren Blick und strahlen mich an.
Wirklich?, fragt sie ungläubig.
Danke, mein Kind, dass du das zu mir gesagt hast.
Weißt du, in der Einsamkeit kommt man sich so überflüssig vor. Das ist das Schlimmste.
Ach, Oma, du hast Opa aber auch immer ziemlich verwöhnt. Wie wäre es, wenn du dich jetzt mal etwas verwöhnen lassen würdest.
Sie kichert, aber Kind, das geht doch in meinem Alter nicht mehr.
Gleichzeitig bekommen ihre Augen jedoch einen schelmischen Hauch, fast wie die Augen eines kleinen Kindes, das gerade den Eltern einen Streich gespielt hat, so, als ob Oma nun ihrem Schicksal einen Streich spielen wolle.
Als ich mich letzte Woche wieder zu einem Besuch bei ihr anmelden will, höre ich sie am Telefon sagen:
Tut mir leid, aber da bin ich mit meiner alten Schulfreundin, die sich zufälligerweise nach unserem letzten Treffen bei mir gemeldet hat, für ein paar Tage am Meer im Wellnesshotel.
Ich freue mich für sie und meine nur:
Siehst du, dem Schicksal zu entkommen ist keine Altersfrage.