Das Urteil
Ein Gedicht von
Kai S. Guenzel
DAS URTEIL
Wie der Oberamtsschreiber die Augen verengt
und den Federkiel über das Pergament lenkt,
das Urteil zu schreiben, das am nächsten Tag
vollstreckt werden soll – so hat man ihm gesagt.
Ein Wort nur soll fehlen auf diesem Blatt:
jenes Wort, das Auskunft gibt über die Art
von Erden zu scheiden – dem Delinquenten steht‘s frei,
den Tod sich zu wählen, welcher immer es sei.
Im Herzogtum Loonborg steht ein Mann,
und gebeugt, voller Scham, hört den Fürsten er an.
Des Verbrechens beschuldigt, das aus Leidenschaft
er beging, als die Klinge mit all seiner Kraft,
mit Wut, Eifersucht und dem Schmerz, der ihm blieb,
in das Herz seines Nebenbuhlers er trieb.
Vor den Toren steht flehend sein Mädchen und klagt:
Nicht ihn, sondern sie, soll man richten bei Tag.
Der Fürst, hörend, was die Treulose verlangt,
bedachte auch, was er dem Manne verdankt:
Des Schuldigen Mühlen, dessen Korn, dessen Schrot
ernährten den Fürsten und gaben ihm Brot.
Gleichwohl musst‘ er richten, nach jenem Recht,
das beschlossen einst ward, in seinem Lande; drum schlecht
stand‘s nun um den Mann, der sein Leben vor Ort
in des Fürsten Hand legte. Die Anklage: Mord.
„Sterben müsst Ihr, das wisst Ihr. Nicht Bitten und Fleh‘n
bewahren Euch davor, den Henker zu sehn.
Jedoch stell‘ ich Euch frei, wie vor Gottes Gericht
Ihr treten wollt und widerspreche dem nicht.
Doch bedenket: Der Galgen trägt Eurer schon zwei,
nur die Guillotine und das Rad wären morgen früh frei.
Das Schwert muss zum Schmied, es zu schärfen tut Not.
Wollt Ihr‘s dennoch, dann wird es ein fransiger Tod.“
„Mein Fürst“, sprach der Mann, „wenn ich schon wählen darf:
die Guillotine? – Zu französisch! Und das Schwert ist nicht scharf.
Kommt Wind auf, dann beutelt der Strick mich gar sehr.
Und das Rad, verzeiht, quält meinen Rücken noch mehr.
Darum wähle ich – so ist‘s in meinem Dorf Brauch –
den gewöhnlichsten Tod, und diesen wünsch‘ ich Euch auch:
Er kommt nach dem Speisen, nach Wein und Gesang
eher sanft und im Alter und dauert nicht lang‘.
Des Fürsten Wort galt, und er ließ den Mann zieh‘n,
in die Arme seines Mädchens, in sein Dorf, und ihm schien,
jener Mann war gemeint, als nach etlichen Jahr‘n
er die Kunde eines friedvollen Todes vernahm.
Ein Mann sei verblichen und im Testament,
das er schrieb, wär‘ der Name des Fürsten erwähnt.
Er bekäme, so steht es geschrieben, als Dank
ein Stück Brot, etwas Wein und den Wunsch: ‚Lebe lang!‘
Als der Oberamtsschreiber die Augen verengt
und weicher als sonst seinen Federkiel lenkt,
schreibt er, unmerklich lächelnd, auf ein Papier:
‚Ruh‘ in Frieden! Der Fürst und ich wünschen es Dir.‘
© Kai S. Guenzel
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