Ehre
Ein Gedicht von
Michael Jörchel
Ein Mann sitzt in der U-Bahn einer großen Stadt. Er hat sich auf eine längere Fahrt vorbereitet und ein Buch hervorgeholt. Andere Fahrgäste starrten teilnahmslos in die Luft, lasen in der Zeitung oder beschäftigten sich mit ihren elektronischen Kommunikationsgeräten.
Er hatte noch nicht all zu lang gesessen als zwei, scheinbar angetrunkene, junge Herren den Waggon betraten und sich, lautstark, bemerkbar machten. Sie begannen herum zu pöbeln und fingen mit einigen Leuten einen Streit an, die dann aber an der nächsten Station den Waggon wechselten. Nach einer Weile fiel ihr Blick auf den Mann der, ungerührt der Situation, in seinem Buch las und ihnen keine Beachtung schenkte.
Einer der beiden streitsüchtigen Herren ging auf diesen Mann zu, riss ihm das Buch aus der Hand und warf es durch das Abteil. Die anderen Fahrgäste hofften, da der Mann sehr kräftig wirkte, dass den Beiden endlich einmal jemand Einhalt gebot. Aber der Mann nahm sich sein Buch, setzte sich wieder hin und las weiter.
Die Beiden, die mit so einer Reaktion nicht gerechnet hatten wirkten sehr überrascht. Sie hatten gehofft, dass dieser Mann sie angreifen würde um ihnen so einen Grund zu einer Schlägerei zu geben. Aber er setzte sich einfach hin, las weiter und würdigte sie keines Blickes. Sie fingen an ihn zu beleidigen, beschimpften ihn und sagten unschöne Dinge über seine Familie. Der Mann sah nur einmal kurz auf, verzog mitleidsvoll sein Gesicht und las weiter.
Letztendlich gaben die Beiden auf und stiegen aus, nicht aber ohne sowohl noch einmal einen Schwall an Häme und Beleidigungen loszulassen als auch in die Richtung des Mannes zu spucken.
Als sie endlich draußen waren wurde der Mann von seinem Sitznachbarn, der sich während der ganzen Zeit hinter einer großen Zeitung versteckt hat, gefragt, warum er sich nicht gewehrt hat, ob er zu feige sei und keine Ehre im Leib hat, dass man so mit ihm umspringen konnte.
Der Mann sah kurz von seinem Buch auf und sagte:
„Glauben sie wirklich, dass ich für jeden meine Ehre zum Spielball ihres mangelnden Selbstwertgefühls hergebe? Meine Ehre ist sicher in der Festung meiner Selbstachtung verankert und niemand kann dort eintreten.
Die Beiden haben nur an der Pforte gekratzt und versucht sich etwas von ihren Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen an der Fußmatte abzustreifen. Dieses Verhalten hat eher deren Ehre geschadet, Meine haben sie damit nicht einmal berührt.“
© Michael Jörchel